Bauers DepeschenFreitag, 01. März 2019, 2071. DepescheWICHTIGE TERMINE Samstag, 6. April: Große Stuttgarter Demo gegen Mietenwahnsinn und Wohnungsnot. Kundgebung 14 Uhr auf dem Schlossplatz. Sonntag, 14. April, von 14 Uhr bis 17 Uhr im Jugendhaus West: 3. FORUM GEGEN RECHTS - fünf Wochen vor den Kommunalwahlen. 3 Workshops, Dialoge, Vernetzung. Anmeldungen (nicht zwingend): offenesforum@posteo.de Montag, 15. April, 19.30 Uhr: Buchvorstellung "5 Jahre Die Anstalt" im Württembergischen Kunstverein. Filmausschnitte aus der Satireshow des ZDF zum Thema Bahn/S 21. Lesung, Live-Musik. Karten zu 6 Euro ab sofort im WKV am Schlossplatz. Sonntag, 12. Mai: Flaneursalon im Waldheim Gaisburg. 19.30 Uhr. Hört die Signale! MUSIK ZUM TAG Neue StN-Kolumne FÜR DIE EWIGKEIT Heute starte ich wieder den Versuch, ins Reich des Verschwundenen hinabzusteigen. Wieder bin ich unter Tage in der Hoffnung, irgendwann das Abseitige, das Fantastische im Licht zu sehen. Mit dem Verschwundenen meine ich nicht einen wie den Bürgermeister Wölfle, der sich gerade in einem Anfall gesunden Humors mit einer Krankmeldung aus dem Rampenlicht eines Krankenhausskandals gestohlen hat. Bei meiner Suche im Unterirdischen geht es um einen Fall, den man nur mit Ahnungslosigkeit in die Behandlungsräume der Ärzte abschieben könnte. Eigentlich bin ich nur Mitläufer im Tross einer Handvoll Menschen, die in dem gigantischen Werk eines immer noch nur leidlich bekannten Stuttgarter Tüftlers und Handwerkers unbegrenzten künstlerischen Wert erkennen. Ich spreche von der sogenannten Modelleisenbahn, die das Stuttgarter Präzisionsgenie Wolfgang Frey in mehr als 30 Jahren im Alleingang erschaffen hat. Diese 30 Jahre, sagen Kenner, seien ein Wunder an sich. Um Ähnliches zu fertigen, bräuchte man normalerweise mehr als 70 Jahre. Mit einer Modelleisenbahn, wie wir sie kennen, hat diese Stuttgartwelt im Maßstab 1:160 allerdings kaum etwas zu tun. Wolfgang Frey starb 2012 mit 51 Jahren. Bis dahin hat er in unterirdischen Ateliers der S-Bahnstation Schwabstraße an seiner Weltschöpfung gearbeitet, an einem Stück minimalistischem Stuttgart, wie es nur mit künstlerischer Besessenheit und radikaler Hingabe entstehen konnte. Die meiste Zeit hat er in Räumen hinter einer Stahltür in der U-Ebene verbracht, ohne das geringste Bedürfnis, sein Werk einem größeren Publikum zu präsentieren. Inzwischen sind etwa 80 Prozent seiner Arbeit mit ihren 500 Gebäuden, 250 Loks und 1000 Zügen in der Dauerausstellung „Stellwerk S“ zu sehen. Allerdings nicht in Stuttgart, wohin das 190 Quadratmeter umfassende Modell zwingend gehört, sondern in Herrenberg, im Gästehaus Zum Botenfischer, Nagolder Straße 14. Der Unternehmensberater Rainer Braun hat das kleine Museum zu Ehren Wolfgang Freys finanziert. Halbwegs nachvollziehbar wird das Modell erst, wenn man sich mit seiner Entstehung beschäftigt, soweit dies noch möglich ist. Viele Geheimnisse hat der Künstler mit ins Grab genommen. Auch deshalb führen uns, ein Häufchen Neugieriger, die jüngsten Expeditionen nicht nur nach Herrenberg, sondern auch in die Tiefe der S-Bahnstation Schwabstraße. Angeleitet werden wir von dem Stuttgarter Künstler und Autor Harry Walter, der sich mit seinen Kollegen vom Begleitbüro SOUP (Stuttgarter Observatorium urbaner Phänomene) seit Jahren mit Wolfgangs Freys Leben beschäftigt, ohne ihn noch kennengelernt zu haben. Im vergangenen Herbst hat SOUP den in Wuppertaler lebenden Künstler und Kunsttheoretiker Bazon Brock nach Stuttgart eingeladen, um zusammen mit Künstlerfreunden dessen Meinung über das Schaffen Wolfgang Freys zu hören und in Wort und Bild zu dokumentieren. Bazon Brock (82), diese schillernde, streitbare Figur im internationalen Kulturbetrieb, kam eigens aus seiner Berliner „Denkerei“ angereist und überschlug sich beinahe vor Superlativen. Frey nannte er einen „Leonardo der Zeit“, einen „Großkünstler des 20. Jahrhunderts“, empfahl dringend die Bewahrung der Modellbahnfragmente in der Schwabstraße und sagte: „Diese Welt wird es niemals anders mehr geben als in diesem Modell. Stuttgart gibt es nur auf dieser Ebene. Alles andere können Sie an Stuttgart vergessen. Das ändert sich alle zehn Jahre, was soll’s noch. Aber hier ist der Anspruch auf Ewigkeit und Dauer gesetzt. Und das ist so fantastisch, das erfüllt als Voraussetzungen für das großartigste Konzept künstlerischer Arbeit. Wahnsinn.“ Da der Wahnsinn Methode hat, schwebt den SOUP-Leuten in Freys einstigen Atelierräumen die Einrichtung eines gewissermaßen geheimen Museums für die etwas andere Stadtgeschichte vor. In den Untergrundstudios lagern noch die Dokumente eines obsessiven Lebens. Wir stehen vor einer verschlissenen Couch, auf der er geschlafen hat, als er die Unterwelt nicht mehr verlassen hat. Wir sehen die aus dem Zusammenhang gerissene Teile seines Modells, die keinen Platz mehr in Herrenberg fanden. Wir stolpern über Holztafeln mit Fotografien Stuttgarter Theaterinszenierungen, ohne hier unten ihren Sinn und Zweck zu erkennen. Geöffnet werden könnte dieser Ort, so die Idee, für Führungen kleiner Gruppen. Als ein Ort für Vorträge und künstlerische Präsentationen aller Art, die Stuttgarts jüngere Vergangenheit beleuchten. Etwa das mysteriöse Jahr 1978, als Frey mit seiner Modellbauarbeit beginnt, als in Stuttgart das Künstlerhaus Reuchlinstraße eröffnet wird, als der geniale Stuttgarter Raumfahrtabenteurer Lutz Kayser mit Raketenexperimenten in Zaire politische Konflikte auslöst. Den Beteiligten schwebt ein „Ort des Verschwundenen“ vor, ein Platz, an dem die aus dem Bewusstsein verdrängte Vergangenheit der Stadt und ihre Gegenwartsbezüge lebendig werden. Unter dem Titel „Festung der Einsamkeit“ sind bereits Künstler verschiedener Sparten damit beschäftigt, den Frey‘schen Nachlass zu deuten. Die Räume in der S-Bahnstation gehören der Deutschen Bahn. Bis 2020 haben sie Freys frühere Frau und Rainer Braun gemietet. Was danach mit ihnen geschieht, ist ungewiss. Müssten sie geräumt werden, wäre die Wahnsinnswelt des Wolfgang Frey kaum noch zu vermitteln. Die Stadt würde einen einzigartigen Spiegel ihrer Existenz, eine grandios-monumentale Miniatur ihrer Geschichte vergessen – und einfach verschwinden lassen. |
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