Bauers Depeschen


Dienstag, 04. Dezember 2018, 2041. Depesche



 



AKTUELLER NACHTRAG

Achtung, Gegen-Demo beim Stuttgarter AfD-Aufmarsch an diesem Samstag: Treffpunkt Rotebühlplatz. 12.30 Uhr.



Hört die Signale!

DAS LIED ZUM TAG



Gegen-Demo am Samstag:

AfD PLANT AUFMARSCH IN STUTTGART

Die AfD, teilt der sattsam bekannte Landtagsabgeordnete Räpple auf Twitter mit, will an diesem Samstag ab 13 Uhr in der Stuttgarter Innenstadt gegen den Migrationspakt und „die Abschaffung Deutschlands“ aufmarschieren. An einer Gegen-Demo wird bereits gearbeitet: Es is uns Pflicht und Vergnügen, etwas zu tun gegen die rechtsnationalistischen und völkischen Pläne zur Abschaffung der Demokratie. Näheres demnächst.



StN-Kolumne

IM HAUS DER TÄTER

Es regnet am Sonntagabend, als ich das neu gestaltete Hotel Silber besuche. Das Haus im Straßenlicht am Charlottenplatz erinnern mich an alte Kinos, wie es bis Ende der Sechzigerjahre eins gegenüber im Alten Waisenhaus gab. Ellen Silber, die Tochter des Hotelgründers Heinrich, hat schon 1951 Stuttgarts Polizeichef gebeten, ihren Familiennamen nicht mehr für das berüchtigte Gebäude in der Dorotheenstraße zu verwenden. Eine Amtsverfügung blieb erfolglos.

Heute steht der Name des 1874 erbauten Hotels erneut an der Lichtsäule über dem Eingang. Hotel Silber. Der Ort des Grauens. In diesem Haus war von 1933 bis 1945 die Folter- und Mord-Zentrale der Gestapo. Nach dem Zusammenbruch der Nazi­Diktatur vergingen mehr als 73 Jahre, bis es Land und Stadt jetzt schafften, in diesem Gebäude einen Lern- und Gendenkort zu eröffnen. Die bittere Pointe des langen Kampfs gegen Boykott und Bürokratie: Inzwischen sitzen mehr Nationalisten und Völkische als SPD-Abgeordnete im Stuttgarter Landtag. Auf politischer Seite wäre es deshalb angebracht, sich selbst nicht so enthusiastisch mit Vokabeln wie „stolz“ und „großartig“ zu feiern wie die Bildungsbürgermeisterin Isabel Fetzer in ihrer Rede.

Es war vor allem die Initiative ruheloser Bürgerinnen und Bürger, die vor zehn Jahren den Abriss des Gebäudes verhinderte. Auch Wählerstimmen für einen Regierungswechsel waren notwendig. Hätte nicht 2011 eine grün-rote Koalition die mehr als ein halbes Jahrhundert währende CDU-Herrschaft gebrochen, wäre das Haus, im Besitz des Landes, platt gemacht und Breuningers Konsumquartier geopfert worden.

In dieser Stadt hat eine Rathausmehrheit die gründliche Auseinandersetzung mit dem Faschismus vor der eigenen Haustür lange Zeit verweigert. Schon in den Achtzigerjahren wurde das Projekt „Stuttgart im Dritten Reich“ im Tagblattturm nach kurzer Zeit ersatzlos gestrichen. Die allgemeinen Folgen mangelnder Bildung kennen wir. Die Staatssekretärin Petra Olschowski erwähnt in ihrer Begrüßung im Hotel Silber eine neue Studie des US-Fernsehsender CNN zum Holocaust: 40 Prozent der Deutschen zwischen 18 und 34 Jahren wissen heute „wenig“ oder „nichts“ über die Judenvernichtung der Deutschen.

In der Nachbarschaft des Hotel Silber steht das Kaufhaus Breuninger. Der ehe­malige Firmenchef Alfred Breuninger war von 1933 an NSDAP-Mitglied und von 1935 bis 1945 Stuttgarter Ratsherr. 1937 erwarb er am Marktplatz weit unter Wert das Haus der jüdischen Eigentümer Josef Grünberg und Arthur Hirschfeld. Seine Firma produzierte Wehrmachtsuniformen und steigerte ihre Profite vor allem mithilfe von Zwangsarbeitern, die die Gestapo organisierte.

In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an einen Vortrag des Leiters der KZ-Gedenkstätte Buchenwald, Volker Knigge, bei der Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber. Er empfahl, im neuen Museum auch das Nazi-Kapitel des Kaufhauses aufzuarbeiten: Nur durch die präzise, detaillierte Konfrontation mit der Geschichte in unmittelbarer Umgebung könne man jungen Menschen die Verbrechen der Nazis nahe bringen und begreifbar machen.

Bei meinem Rundgang durch das Hotel Silber, den einstigen Büro- und Kerkerbau der Täter, sind Zeitzeugen und Leihgeber der Ausstellung zu Gast, alle einst konfrontiert mit der Gestapo. Einige kommen von weither, wie Henry Kandler (89) aus New York. Ursprünglich hieß er Heinz Kahn. Mit einem Kindertransport wurde er nach England gebracht, ehe die Familie seines Vaters, des von den Nazis enteigneten Unternehmers Rudolf Kahn, fliehen konnte.

Unter den Zeitzeugen im Hotel Silber ist auch Franz Hirth, geboren 1928. Am 8. November 1939 verübt sein Onkel, der Schreiner Georg Elser, im Münchner Bürgerbräukeller mit einer selbst gebastelten Bombe ein Attentat auf Hitler. Franz Hirths Geschichte ist im Eingang des Hotel Silber dokumentiert. Mit seinem Vater Karl und seiner Mutter Maria, Georg Elsers Schwester, wohnt er in der Lerchenstraße 52 im Stuttgarter Westen. Wenige Tage nach dem Attentat werden er und sein Vater aus der Wohnung geholt und ins Hotel Silber gebracht. Ein Gestapo-Mann befiehlt Franz, sich auf einen Stuhl beim Pförtner zu setzen. Dort verharrt er stundenlang. Am späten Abend stellt sich heraus: Die ­Beamten haben ihn vergessen. Man bringt ihn in ein Kinderheim in der Türlenstraße.

Im Hotel Silber treffe ich auch den ehemaligen Kriminalpolizisten Michael Kühner (70). Er hat als Kind im selben Haus wie die Familie Hirth in der Lerchenstraße gewohnt und mit Franz’ zehn Jahre jüngerem Bruder Karl-Heinz dieselbe Klasse besucht. Erst 2007, bei Recherchen für das Polizeimuseum in der Hahnemannstraße, hat er erfahren, mit wem er einst unter einem Dach lebte. Niemand im Haus hat früher den Namen Elser erwähnt. Später arbeitet der Kriminalbeamte Michael Kühner selbst im Hotel Silber. Neben der Polizei war in diesem Gebäude lange auch das Innenministerium untergebracht. Die blutigen Spuren der Vergangenheit in der einstigen Schaltzentrale des NS-Terrors schienen nicht zu stören. Man tat so, als wäre vom Gestapo-Haus nichts mehr vorhanden.

Das Hotel Silber erzählt uns heute vom deutschen Verschweigen, Vertuschen, Verleugnen. Erst 1999 konnte sich die Stadt Stuttgart überwinden, dem lange totgeschwiegenen Widerstandskämpfer Georg Elser aus Königsbronn wenigstens eine Staffel zu widmen – in der Nähe der Richard-Wagner-Straße, die vor den Nazis Heinrich-Heine-Straße hieß.

Auf den ersten Schritten durch ein noch menschenleeres Hotel Silber habe ich gemischte Gefühle. Der Schriftsteller Wolfgang Schorlau notiert später im Gästebuch, in diesen Räumen sei es möglich, „erschüttert und begeistert“ zugleich zu sein. Erschütterter über die dokumentierten Schicksale und Verbrechen. Begeistert über die Vielfalt an Aufklärung. Wer durchs Hotel Silber geht, wer Fotos, Filme, O-Töne, Briefe und Protokolle studiert, muss nicht nur Leid und Schmerz aushalten. Es wächst auch der Zorn über die nach wie vor verharmloste Gefahr des heutigen Rechtsrucks. Wann endlich wird man begreifen: Der Untergang der Nazi-Diktatur war nicht das Ende der Nazis.

 

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