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Montag, 11. Februar 2019, 2065. Depesche

 

WOLFGANG POHRT zum Gedenken.

Vergangenen Freitag, am 8. Februar, wurde die Asche des Autors und Sozialwissenschaftlers Wolfgang Pohrt im Grab seiner 2004 verstorbenen Frau Maria auf dem Heslacher Friedhof beigesetzt. Der streitbare Ideologiekritiker und brillante Stilist hat - was viele nicht wissen - lange in Stuttgart gelebt. Hier ist er am 21. Dezember 2018 mit 74 Jahren gestorben. Bei der Bestattung in Stuttgart-Heslach hielt sein Berliner Verleger Klaus Bittermann (Edition Tiamat) die Trauerrede. Ein Nachruf, den ich auf dieser Seite festhalten will.



Stuttgart, Heslacher Friedhof, 8. Februar 2019

Grabrede auf Wolfgang Pohrt

VON KLAUS BITTERMANN



Liebe Agnes Pohrt, liebe Familie Djucic, liebe Verwandte, Freunde und Leser Wolfgangs,

auch wenn die meisten von uns über die Privatperson Wolfgang Pohrt wenig wissen, so ist wahrscheinlich für niemanden der Gedanke abwegig, dass Wolfgang mit seiner Beerdigung kein großes Aufhebens machen wollte. Und wir wissen auch, dass man es ihm sowieso nicht hätte recht machen können. Das hat den Vorteil, dass ich nicht darauf schielen muss, ob das, was ich Ihnen nun erzähle, seine Zustimmung gefunden hätte. Ich werde Ihnen einfach, so gut ich das kann, ein paar wenige Aspekte von dem erzählen, was mir an Wolfgang wichtig war, denn ich muss, glaube ich, nicht genauer darauf eingehen, welche Stationen Wolfgang in seinem Leben durchlaufen hat, dass er in den Siebzigern an der Uni Lüneburg gearbeitet hat, dass er in den Achtzigern freier Autor und Journalist war, der viele Zeitungen mit glanzvollen Essays beliefert und Debatten ausgelöst hat, der in den Neunzigern als Soziologe die Massenpsychologie der Deutschen erforscht hat und der fast das gesamte darauf folgende Jahrzehnt schwieg.

Was ich Ihnen erzählen wollte, hat mit seinem Motiv zu tun, warum er überhaupt geschrieben hat, denn ich kenne niemanden, für den Schreiben nie Selbstzweck war, der nie damit seine Eitelkeit befriedigen wollte, der nie einfach nur Theorieakkumulation betrieb, der nie einfach nur Bücher verfasste als Nachweis für eine akademische Karriere, die er hätte einschlagen können, wenn er gewollt hätte, und der über lange Jahre hinweg gar nichts mehr schrieb, weil er keinen Sinn mehr darin sah. Und dieser Antrieb des Schreibens war existentiell und hatte viele Gründe. Die soziale Ungerechtigkeit, die Armut, der Hunger, die nationalsozialistische Vergangenheit, die Verlogenheit in der Gesellschaft und in der Linken, die Ausländerverfolgung. Das war die Grundkonstellation. Und das waren gleichzeitig die Themen, auf die er immer wieder zu sprechen kam und die seine Artikel heute noch aktuell machen.

Bereits in seiner Dissertation »Theorie des Gebrauchswerts« hebt er darauf ab:

»Die Unterlassung von Hilfe erklärt die vielbeklagte Isolation der Menschen in den Metropolen. Sie haben guten Grund, einander zu mißtrauen, und kein Kommunikationsapostel oder Solidaritätsprediger wird ihnen den ausreden können, es sei denn, er brächte sie vollends um den Verstand. Dieser Grund ist ganz einfach: Wenn Menschen sich verständigen sollen, so müssen sie selbst auch verständlich sein. Solche aber, die tatenlos zuschauen, wie andere im Elend krepieren, sind dies nicht. So gleichgültig, wie sie objektiv gegeneinander als Menschen sind, haben sie sich nichts zu sagen. Die Fernsehreportagen aus den Hungerregionen prägen den modernen Begriff vom Menschen: Armselige Kreatur, die man verhungern läßt. Es gibt keine Herrschaft ohne die über Leben und Tod, und das Herrschaftsverhältnis, welches in den Metropolen den Gebrauchswert zerstört, wird nicht enden vor dem Tag, an dem kein Mensch mehr verhungert.«

Es war Anfang der achtziger Jahre als mir die bei Rotbuch erschienenen Bücher von Wolfgang »Ausverkauf« und »Endstation« in die Hände fielen, die ich begierig verschlang, nicht nur weil ich eine große inhaltliche Übereinstimmung mit seinen Texten feststellte, sondern auch weil da jemand einen neuen Ton anschlug. Der Autor verstand es, seine Thesen und Analysen mit großer Schärfe, Klugheit, Präzision und Eleganz zu formulieren, kein Wort klang falsch oder deplaziert, er verwendete keine Schaumsprache und keine Weihrauchvokabeln, seine Argumentation traf genau und er nahm keine Rücksicht auf den Gegenstand seiner Kritik. Das hat mich sehr beeindruckt, und ich glaube noch heute, dass es keinen begnadeteren Schreiber gibt, der seine politischen Analysen, denen immer etwas Selbstverständliches innewohnte, mit größerer Überzeugungskraft zu Papier bringen konnte und der dabei Witz und Sarkasmus besser einzusetzen gewusst hätte als Wolfgang.

Dabei nahm Wolfgang immer den gegenteiligen oder zumindest einen anderen Standpunkt ein als den, den einzunehmen er Denkfaulheit nachwies und der von Leuten vertreten wurde, die lieber in vorgefertigten Schablonen dachten oder glaubten, mit dem Weltbild eines Tagesschausprechers ihre Karriere voranzubringen. Und diese intellektuelle Kompromisslosigkeit, diese Unnachgiebigkeit in der Argumentation, sprach mich sofort an.

Aus den Büchern Wolfgangs drang ein Sound, der ganz anders war als der, den ich bislang kannte, unabhängig, erfrischend und nicht darauf aus, korrekt zu sein und die Wahrheit gepachtet zu haben. In ihnen kam ein theoretischer Anspruch zum Vorschein, der nicht als Schutzschild verwendet wurde, komplizierte und komplexe Zusammenhänge formulierte er klar und deutlich. Die erste Anstreichung in »Ausverkauf«, die ich damals vornahm, galt dem Satz:

»In einer gedankenlosen Welt ist das Denken wesentlich Hirngespinst. Daher die Esoterik und tendenzielle Nicht-Verstehbarkeit authentischer Theorie, der gelegentlich selbst deren Verfasser zum Opfer fällt. Zwei faule Wochen oder eine Erkältung genügen, die Niederschrift eines Aufsatzes von der Unfähigkeit zu trennen, diesen auch nur noch zu verstehen.«



Dass er seine Überlegungen auch ironisch gegen sich selbst wendete, das war freies, abschweifendes Denken, wobei dieses Denken ihn nicht davon abhielt, vehement darum zu streiten, ob ein Gedanke oder eine Argumentation richtig oder falsch war. Gleichzeitig war ihm aber beim Streit um richtig oder falsch jeder missionarische Eifer fremd. Seine Rolle als öffentlicher Intellektueller, die er zu Beginn der achtziger Jahre inne hatte, als die ersten Bücher von ihm erschienen und heftige Debatten auslösten, spielte er sogar herunter. Am 5. November 1982 hielt Wolfgang in der Blumenthalstraße 13, einem besetzten Haus in Berlin, einen Vortrag, in dem er den Berliner Häuserkampf als »eine Mischung aus freiwilligem Arbeitsdienst und Rebellion« abhandelte:

»Ich habe weder an die­ser Bewegung teilgenommen, noch habe ich sie er­forscht oder gründlich studiert, ich habe nicht mit Besetzern gesprochen, nie in einem besetzten Haus ge­wohnt, und ich besitze keine Dossiers. Ich habe nicht recherchiert, weder im journalistischen noch im krimi­nalistischen Sinne, und man hat mir daraus einen Vor­wurf gemacht. Man hat mir vorgeworfen, die Friedens­bewegung, die Alternativen, die Grünen und die Hausbesetzer leichtfertig, gewissenlos und verantwortungs­los zu verleumden. Dem halte ich entgegen, daß ein Kommenta­tor oder Kritiker deshalb, weil er keine Macht hat, Ur­teile zu fällen oder Strafen zu verhängen, auch nicht an die Regeln der Beweisaufnahme gebunden ist, welche die Strafprozeßordnung verlangt. Man trägt keine Ver­antwortung, wenn man sich Gedanken macht und eine begründete abweichende Meinung äußert, nicht als Kri­tiker oder Publizist, der keine administrative Macht be­sitzt. Wenn der Kanzler Unsinn erzählt, dann ist dieser Unsinn deshalb, weil sein Erzähler die Macht besitzt, ihn zu verwirklichen, immer noch wichtig. Wenn ich Unfug schreibe oder rede, so ist dieser Unfug vollkom­men bedeutungslos, und man kann ihn getrost als Pro­dukt eines mitteilungssüchtigen Spinners ignorieren.«



Indem er seine eigene Bedeutung als Kommentator radikal relativierte und die Begründung dafür so schlüssig war, dass sich kaum Einwände dagegen finden lassen, führte er auf listige Weise den Nachweis, dass er natürlich alles andere war als ein »mitteilungssüchtiger Spinner«. Gleichzeitig stellte er damit ein Geschäftsmodell in Frage, auf dem auch seine Existenz beruhte, und er gab den Leuten zu verstehen, dass den sogenannten »Experten«, die im öffentlichen Streit um die Meinungshoheit mitmischten, nur die Bedeutung zukam, die man ihnen entgegenbrachte.

Es war also nicht nur seine inhaltliche Kritik, sondern auch seine Haltung, die mich begeisterte. Damals sah ich Wolfgang zum ersten Mal. Ich fragte ihn, ob er nicht bei mir publizieren wolle. Er sagte sofort zu. Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, denn nun hatte ich einen Autor, der dem Verlag ein Profil gab, Aufmerksamkeit verschaffte und der andere Autoren zum Verlag führte, wie Eike Geisel, Henryk M. Broder und Christian Schultz-Gerstein. Wolfgang war in dieser Hinsicht vollkommen unkompliziert. Er fragte nicht, was ich denn als Anfänger im Verlagswesen vorzuweisen hätte, wieviel Vorschuss ich bezahlen könne, er sah nur, dass hier jemand brennend an der Veröffentlichung seiner Artikel interessiert war, und das reichte ihm. Von niemandem habe ich mehr gelernt als von Wolfgang, und das war vor allem unabhängiges Denken.



»Mein Job ist die Ideologiekritik, das habe ich gelernt«, sagte Wolfgang 1987 den Stuttgarter Nachrichten. »Die Leute sagen mir, was sie denken und ich sage ihnen, warum das falsch ist.« Das habe ich häufig genug erfahren müssen und meistens hatte ich seinen Argumenten wenig entgegenzusetzen. Aber er wusste auch, dass er damit in eine Sackgasse geriet. »Man tritt in der BRD in eine Phase ein, in der es kein falsches Bewusstsein, sondern die Absenz jeden Bewußtseins überhaupt gibt – was den Job des Ideologiekritikers natürlich schwierig macht...«

Immer wieder wurde Wolfgang vorgeworfen, seine Polemik gegen die Deutschen würde beweisen, dass er an deutschem Selbsthass leide und gerade darin würde sich zeigen, dass er deutscher sei als all die Deutschen, die er kritisiere. Der Hass aber, den die Linken und Intellektuellen in seinen sarkastischen und scharfen Formulierungen entdeckt zu haben glaubten, entsprang bei ihm einfach einer Empathie, die in der Weigerung besteht, still da zu sitzen, wenn Ausländer wie damals in Rostock-Lichtenhagen angegriffen werden. Selten habe ich ihn so fassungslos erlebt wie damals. Weil ihn diese pogromartigen Zustände zutiefst erschütterten als Akt inhumanen Denkens und Verhaltens, war es ihm unmöglich, sich als beteiligungsloser und »objektiver« Beobachter den Ereignissen gegenüber zu verhalten. Nicht der in Wolfgangs Formulierungen ausgemachte Hass war das Problem, vielmehr hielt Wolfgang mit den unzureichenden Mitteln des Journalismus fest, von welcher Gesinnung Leute getrieben sein müssen, die andere verfolgen und manchmal auch ermorden, ohne dass es dafür einen Grund wie beispielsweise Habsucht oder Eifersucht gäbe, sondern nur den Hass auf einen anderen, mit dem man nichts zu tun hat, mit dem einen sogar so existentielle Dinge verbinden wie Perspektivlosigkeit und Armut. Der Hass, der Wolfgang unterstellt wurde, hatte nichts mit dem Wunsch nach Vernichtung zu tun, er war auch kein Ausdruck zynischer Menschenverachtung, sondern einfach nur die verzweifelte Reaktion eines Menschen, der dem Straftatbestand des versuchten Mordes an Ausländern hilflos gegenübersteht.

Für Wolfgang war es deshalb eine Frage der Notwehr, gegen die Mordversuche und tatsächlichen Morde anzuschreiben. Steht man nämlich existentiellen Situationen von Menschen, in denen es um Leben und Tod geht, nicht anders gegenüber als auf einer Pressekonferenz im Bundeskanzleramt, wo der Pressesprecher routiniert sein »aufrichtiges Bedauern« über die als »Ereignisse« verharmlosten Mordversuche ausspricht, dann hat man den idealen Aggregatszustand für den Journalisten erreicht, der sich leicht von einem »intelligenten Computer« ersetzen lässt, aber eines wird man von diesem auf keinen Fall erwarten dürfen: Erkenntnis und Fortschritt. »Hass«, schreibt Wolfgang in einem Vortrag über die »Zukunftsangst«, den er am 2. November 1985 in Mainz gehalten hat, ist »eines der wichtigsten Motive für den analysierenden, wörtlich: zersetzenden Verstand, dem wir alle Humanisierung vorgefundener Gewaltverhältnisse durch deren Zerstörung verdanken«.



Ich möchte Ihnen nun eine längere Passage aus einem Vortrag vorlesen, der Wolfgang am 16. Januar 1994 auf einem Symposion über Hannah Arendt in Wien gehalten hat, in dem er sich mit der Rolle der Intellektuellen beschäftigt:

Meine Damen und Herren,

seit 1989 haben sich nicht nur die Leute verändert, sondern man schaut sie auch mit anderen Augen an. Rostock und Hoyers­werda gaben in Deutschland einen Vorgeschmack auf Zustän­de, deren Eintreten nicht mehr ausgeschlossen werden kann. Angesichts drohender Konfrontatio­nen aber ist es un­vermeid­lich, daß man heimlich Heerschau hält. Men­schen, an denen man bis­lang nicht gezweifelt hatte, mustert man neu­erdings skeptisch. Abzuschätzen gilt, wie sie sich unter schwierigeren Bedingungen verhalten wür­den, ob man sie dann als Verbündete werde betrachten dürfen oder nicht. Man stellt sich, diesmal nur auf die Zu­kunft ge­münzt, die gleiche Frage, die Han­nah Arendt in ihren Stu­dien über den Nationalsozialismus häufig erörtert hat.

Die Frage lautet: Welche Menschen bleiben unter außer­ge­wöhnli­chen Bedingungen normal, indem sie einen Rest an persön­licher Integri­tät bewahren; warum verhalten sie sich nicht so wie die anderen, die in der überwältigenden Mehr­heit zu jeder Schand­tat bereit sind, sogar dann, wenn ihnen die Schandtat gar nichts nützt, sie sich dadurch vielmehr selber ins Verderben stürzen. Und die Antwort ist: Man kann es eigent­lich nicht begrün­den.

Stets sind die Helden in Han­nah Arendts Werk Perso­nen, die et­was Selbstverständ­liches unter außer­gewöhn­lichen Bedin­gun­gen tun. Weder sind sie auf die Außenseiterrolle besonders vorberei­tet, noch erscheinen sie dafür be­sonders geeignet, und Befriedigung ihres Ehr­gei­zes, ihrer Eitelkeit oder ihres Sendungsbewußtseins finden sie darin schon gar nicht. Sie drängen sich weder zum Abenteuer noch ans Mi­krophon, sie sehnen sich auch nicht da­nach, ihren Namen irgendwo gedruckt zu finden. Sie mögen den ganzen Rummel nicht und wären lie­bend gern brave Bür­ger. Selbst wenn sie eine politi­sche Über­zeu­gung besit­zen, nicht selten die falsche übri­gens, spielt das in der Praxis keine Rolle. Die antisemi­ti­sche Ver­schwörung gegen Dreyfus etwa wur­de, wie Han­nah Arendt schreibt, aufge­deckt von einem Mann, »der, obwohl ein guter Katholik und höherer Offizier mit allen schönen Aussichten für die Zukunft, ja sogar mit ganz ein­wand­freier Judenantipathie, es noch nicht zu der Ein­sicht gebracht hatte, daß der Zweck alle Mit­tel heilige, ein Mann, dessen Gewis­sen völlig un­ab­hängig von sozia­ler Zu­gehörigkeit und beruflichen Am­bi­tionen geblieben war. Dieser Mann war Picquart, und mit diesem einfa­chen, ruhigen, politisch ganz un­interessierten Men­schen wurde der Gene­ralstab nicht fe­r­­tig.«

Sie werden zugeben, meine Damen und Herren: Besonders groß ist die Wahrscheinlichkeit nicht, daß wir eine solche Person auf die­sem Sym­posion treffen. Die Chancen stehen sogar eher schlecht, und zwar aus vielen Gründen. Einer davon ist, daß Intellektuelle gera­de dann die Dinge unnötig komplizieren, wenn sie leider furchtbar einfach ge­worden sind. Die Weni­gen, die es unter den Nazis aus­drücklich ab­lehnten, sich an der Ver­folgung und Ermor­dung der Juden zu beteiligen, hät­ten über ihre Beweggründe kei­nen längeren Vortrag halten kön­nen, weil sie nur einen ein­zigen hat­ten. Sie verweigerten, wie Hannah Arendt schreibt, ihre Beteiligung an dem Morden, »weil sie nicht willens wa­ren, mit einem Mörder zusam­men­zuleben – mit sich selbst.«

Dies ist ein Gedanke, für den man keine zehn Jahre Gym­nasium absitzen braucht. Eher ist es so, daß geistig durch­trainierte Men­schen ihn aus ihrem Kopf verbannen können, weil sie die trickreicheren Erfinder von Ausflüchten sind, routinierte Selbstbetrüger.

Nehmen wir mal an, da steht so ein armer Teufel, meinet­wegen Zigeu­ner aus Rumänien, mit seiner Frau und seinen schmut­zi­gen, ver­lausten, hungrigen, frierenden Kin­dern an der Grenze. Er will hin­ein. Läßt man ihn, wird man ihn zwar ernähren müs­sen, bleibt aber dafür ein anständiger Mensch. Läßt man ihn nicht, kann man sich zwar selber mästen, ist dafür aber auch ein Schwein.

Schwein oder Nicht-Schwein: Vor dieser elementaren Frage stehen einfach denkende Leute manchmal, Intellektuel­le nie. Sie bleiben immer gute Menschen, weil sie fähig sind, das Grund­sätzli­che und die Folgen zu bedenken. Wenn man die Zigeu­nerfamilie nun reinließe: Hieße das nicht, sie ihrer Kultur ent­fremden? Liefe dies nicht auf Nachgiebigkeit hin­aus ge­genüber den rumänischen Rassisten? Wäre es nicht bes­ser, die Ursachen der Flucht in den Herkunfts­ländern zu bekämp­fen? Ließe man einen armen Teufel rein, würden dann nicht alle kommen wollen? Muß unsere Solidarität nicht eher den Allerschwächsten gelten, denen, die gar nicht mehr die Kraft haben, sich bis an unsere Grenze zu schleppen? Ist die Ankunft immer neuer Flüchtlinge nicht Wasser auf die Mühlen der Faschisten hier? Wäre es nicht geradezu verantwortungslos, nach den Erfah­run­gen von 1933 die De­mokratie aufs Spiel zu setzen?

Dergleichen Ausflüchte, die Ihnen aus der aktuellen De­batte bekannt sein dürften, schützen die Intellektuellen da­vor, die Not­wendigkeit einer anderen Urteilsbildung zu er­kennen. Sie erfordert, Han­nah Arendt zufolge »keine hoch entwickelte Intelligenz oder ein äußerst diffe­ren­ziertes Moral­verständ­nis, sondern schlicht die Gewohnheit, aus­drücklich mit sich selber zusammenzuleben, das heißt, sich in jenem stillen Zwiege­spräch zwi­schen mir und meinem Selbst zu befin­den, welches wir seit Sokrates und Plato ge­wöhnlich als Den­ken be­zeich­nen. Obwohl sie allem Philoso­phieren zugrundeliegt, ist diese Art des Denkens nicht fach­orien­tiert und han­delt nicht von theo­retischen Fragen. Die Tren­nungs­linie zwi­schen denen, die urtei­len, und denen, die sich kein Urteil bilden, verläuft quer zu allen so­zia­len Unterschieden, quer zu allen Un­terschieden in Kul­tur und Bildung. In dieser Hinsicht kann uns der totale Zu­sammenbruch der ehrenwerten Gesell­schaft wäh­rend des Hitlerre­gimes lehren, daß es sich bei de­nen, auf die unter Umständen Verlaß ist, nicht um jene han­delt, denen Wer­te lieb und teuer sind und die an moralischen Normen und Maßstä­ben festhalten; man weiß jetzt, daß sich dies alles über Nacht ändern kann, und was dann davon noch übrig bleibt, ist die Ge­wohn­heit, an irgendwas festzuhal­ten.«



Und schließlich möchte ich Ihnen noch einige positiven Stimmen über Wolfgang vorlesen, um zu zeigen, wie Wolfgang in der Öffentlichkeit auch wahrgenommen wurde, nicht nur feindselig:



Lothar Baier in der Zeit: »Pohrts Kritik nicht nur an der deutschen Friedensbewegung, ist auch ein Einspruch gegen die fatale Neigung, aus Angst vor dem Beifall von der falschen Seite lieber das Maul zu halten. (...) Die Friedensfreunde und Alternativen, die sich jetzt über ihn empören, möchte ich fragen, wer in jüngster Zeit ähnlich erhellendes über das KZ-Universum geschrieben hat wie Pohrt.«

Henryk M. Broder im Spiegel: »Ich gebe zu, daß mir zu Pohrt die kritische Distanz fehlt, daß ich die Sachen, die er schreibt, nicht nur überzeugend, sondern auch beneidenswert gut formuliert finde. Wenn ich dennoch sage, daß ich ihn für einen monomanischen Nörgler halte, dann ist auch das ein Kompliment.«

Wolfram Schütte in der FR: »Von allen essayistischen »Kopfgeburten« der letzten Zeit sind deshalb Wolfgang Pohrts Pamphlete und Essays die monströsesten, Kinder des Schreckens, gezeugt von Intelligenz und politischer Moral, aufgezogen von Empörung und Zorn und in die Welt geschickt, um Unruhe zu stiften.«

Thomas Rüst im Zürcher Tages-Anzeiger: »Zu den brillanten, ebenso beachteten wie angefeindeten Teilnehmern an der bundesdeutschen Szenediskussion, zählt Wolfgang Pohrt. Der Adorno-Schüler vertritt Positionen, die bei vielen Linken geradezu Abscheu hervorrufen. Pohrt hat es nämlich gewagt, ans linke politische Tabu Nummer eins zu rühren, die Kritik der Friedensbewegung. Pohrt war zudem einer der wenigen – mittlerweile muß man sagen: einer der ersten –, die bei der Lektüre von Peter Sloterdijks ›Kritik der zynischen Vernunft‹ nicht rote Ohren kriegten, und vor allem: Pohrt trägt seine Gedanken – vom sicheren Boden der Frankfurter Schule aus – mit einer polemischen Schärfe vor, die auch für bundesdeutsche Verhältnisse ungewöhnlich ist und die an den Wiener Karl Kraus erinnert.«

Josef Joffe in der Süddeutschen Zeitung: »Wer willens ist, sich in Rage zu lesen und dennoch weiterzudenken, wer bereit ist, die Solidität seiner Glaubensfestung gegen einen brillanten intellektuellen Guerilla-Kämpfer zu testen, der sollte Pohrts Schriften dauerabonnieren.«



»Es gibt Bücher, von denen man ungelesen weiß, daß sie gut sind, und die einen nach der Lektüre ebenso bestätigt wie unsicher zurücklassen. Brillant, wie Pohrt auch noch die kompliziertesten Gedankengänge in eine makellose Satzharmonik hineinzaubert, wie er dadurch dem Leser das Verständnis seiner messerscharfen Denkarbeit zumindest sprachlich erleichtert; großartig, wie er seine Angriffsziele mit einer Polemik bedient, an der die Rundungen weh tun und nicht die Spitzen; verwirrend, wie sich die Anzahl dieser Angriffsziele mit jedem Essay mehrt, bis keine liebgewonnene rechte, linke, grüne, liberale feministische, terroristische Lebenslüge mehr übrigbleibt, und die dadurch beim Leser hervorgerufene Orien­tierungslosigkeit schließlich in der Frage nach der Orientierung des Autors Ausdruck findet, um eben damit in die letzte seiner Fallen zu gehen: Denn Wolfgang Pohrt läßt sich nicht einordnen, und was er zeigen will, ist eben das, daß es sich nämlich auch leben läßt, ohne daß man seine Seele einem Ismus oder Guru verkauft, als Opportunist in einem positiven Sinne sozusagen, und daß alles andere zwar bequem, aber lächerlich ist«. (Express, Nr. 2 Oktober 1986, Wien)

Malte Lehming im Tagesspiegel: »Auch auf die Liebe verstand sich Wolfgang Pohrt. In unserem, dem therapeutischen Zeitalter, schreibt Pohrt, sei die Erkenntnis fast vergessen worden, ›dass Liebe unheilbar und vielleicht sogar durch ihre Unheilbarkeit wirklich Liebe ist.‹ Mehr als die Zukunft gilt den wahrhaft Liebenden der Augenblick. Es ehrt den scharfsinnigen Sezierer von Mentalitäten, Politik und Bandenwesen keine Scheu empfunden zu haben, sich auch selbst zu entblößen. Poet und Polemiker, glänzender Stilist und gelegentlich irrender Weise: Wolfgang Pohrt hat die Deutschen gegen deren Willen reicher gemacht. In der Enge zwischen den sitzen gebliebenen Dummköpfen der Tradition und den apokalyptischen Dummköpfen der Revolution hat Pohrt gewirkt, manchmal manisch, meistens klug, immer klar, nie verbohrt.«

»Wenn heute sein Name nur noch wenigen Lesern etwas sagt, dann liegt das daran, dass Pohrt einer der intelligentesten, streitbarsten und zugleich unerträglichsten Menschen seiner Zeit war, ein Kopf, so unabhängig und unbestechlich, dass an eine stabile Karriere im akademischen oder publizistischen Betrieb einfach nicht zu denken war.« (Claudius Seidl, FAS)



Wie Sie vielleicht wissen, hat Wolfgang die letzten beiden Jahre in einem Pflegeheim verbringen müssen. Die Folgen eines Schlaganfalls haben sein Gehirn und seine motorischen Fähigkeiten angegriffen, was vielleicht das Schlimmste ist, was einem Menschen wie Wolfgang passieren kann, der sich ja immer denkend mit der Welt auseinandergesetzt hat. Dennoch hat er durchaus mitbekommen, was um ihn herum passiert ist, und er hat nie einen Hehl daraus gemacht, wie sehr er darunter gelitten hat. Und deshalb freut es mich, dass er die Werkausgabe seiner Schriften noch mitbekommen hat und stolz darauf war. Ich möchte mich aber vor allem bei Elke Weber, Martin Klein und Gudrun Remane bedanken, weil sie Wolfgang so häufig wie es eben ging besucht haben, um ihm sein reduziertes Leben wenigstens ein klein wenig erträglicher zu gestalten. Und Joe Bauer, der Wolfgang suchte und fand, als er plötzlich verschwunden war. Danke.





 

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