Bauers Depeschen


Freitag, 12. Mai 2017, 1790. Depesche



 



AMTLICHE BEKANNTMACHUNG

Am kommenden Montag, 15. Mai, sage ich auf der Montagsdemo gegen Stuttgart 21 mal wieder was zur Lage der Kesselnation. 18 Uhr, Schlossplatz.



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Die aktuelle StN-Kolumne:



WIEDER SCHULJUNGE

Ich war in der Schule. Wurde auch langsam Zeit. Nicht in einer dieser überlaufenen  Privatschulen für die Kinder der Betuchten, ich hatte was Exklusives ausgesucht: Vorstadtstille, Grundschule Burgholzhof, Klasse 3 für Acht- und Neunjährige. Eine gute Wahl: Der Spaziergänger ist ein ewiger Anfänger. Das gilt auch, wenn er sich zum Burgholzhof wegen Unpässlichkeit kutschieren lässt. Bis heute wird mir schwindlig bei Erinnerungen an die Schulzeit.

Der Burgholzhof liegt nördlich des Stadtzentrums über dem Pragsattel und gehört zum Bezirk Cannstatt. Das berühmteste Gebäude dieses Stadtteils mit 2700 Einwohnern ist das Robert-Bosch-Krankenhaus, die wichtigste Gaststätte heißt Aussichtsreich und ist mir aus gutem Grund bekannt: weiter Blick ins Neckartal.

Früher, vor etwa zwanzig Jahren, war ich öfter auf dem Burgholzhof, allerdings aus niedrigen Beweggründen. Da veranstalteten die amerikanischen Soldaten ihr jährliches Rodeo: eine großartige Show mit Pferden und Bullen, Hufeisenwerfern und Dorfrockern in Staubmänteln. Den Burgholzhof haben Militärs geprägt. Die Wehrmacht baute 1934 auf dem Gelände die Flandernkaserne. Nach dem Zusammenbruch der Nazi-Diktatur öffneten die Amerikaner diese Gebäude für Displaced Persons: „Menschen am falschen Platz“ – Heimatlose, Vertriebene, Geflüchtete mit oft unfassbarem Schicksal. Nach dem Krieg wurden die Robinson Barracks für die GIs und ihre Angehörigen angelegt. Heute sind nicht mehr viele US-Militärs auf dem Gelände, das Quartier wurde in ein öffentliches Wohngebiet umgewandelt. In der Schule wird heute schon von der ersten Klasse an Englisch gelehrt.

Im Viertel der Neubauten findet man die Straßen mit den Namen verstorbener Friedensnobelpreisträger, gewidmet dem ägyptischen Staatsmanns Anwar al-Sadat, dem israelischen Verteidigungsminister Yitzhak Rabin und dem indischen Freiheitskämpfer Mahatma Gandhi. Alle drei Männer wurden ermordet. Der Burgholzhof, ein Kapitel Krieg und Frieden.

In der Schule arbeiten zehn Lehrerinnen und ein Lehrer mit 180 Kindern. Beim Blick auf das asphaltierte Fußballkleinfeld denke ich an Schürfwunden und bekomme Phantomschmerzen im Hüft-, Knie- und Ellenbogenbereich. Ich war mal Torwart, ewiger Anfänger.

Der viel zu klein geratene Spielplatz vor der Schule hat einen tiefen Sandboden, weshalb es bei Regenwetter in den Fluren und Klassenzimmern aussieht wie am Strand von Miami (dieser Gedanke entspringt meiner deutschen Hausmeisterfantasie).

In der Klasse, die ich besuche, werden 21 Kinder unterrichtet. Frau Binder, die ­Lehrerin, hat mich eingeladen. Ich sitze in der Stunde für „freies Schreiben“. Die Schülerinnen und Schüler haben kleine Geschichten mit dem Füller verfasst – eine wird vorgelesen. Sie handelt vom Traum, eine Katze besitzen zu dürfen. Der Text erscheint mir entschieden tiefsinniger und origineller als all die Katzenkacke, die erwachsene Menschen Tag für Tag auf Facebook absondern.

Zunächst dachte ich, ich käme nur als Zaungast ins Klassenzimmer und könnte mich wie früher im Unterricht ausschlafen. Gut, ein wenig neugierig bin ich schon, will wissen, welche Sprachen die Kinder zu Hause sprechen: Indisch, Indonesisch, Arabisch, Amerikanisch, Türkisch, Griechisch, Kroatisch – alle weiß ich nicht mehr. In nur ganz wenigen Familien der Schüler wird Deutsch gesprochen, die Kinder können es alle.

Dann stellen mir die Schüler Fragen. Erst geht es um relativ einfache Antworten: wie ich heiße, wo ich herkomme, wer mein Lieblingsfußballer ist. Ein Mädchen will wissen, ob ich reich bin. Nein, sage ich – und denke: kein Wunder, nix Gescheites gelernt.

Dann wird es ernst. Ein Junge fragt: „Was inspiriert dich zum Schreiben?“ Exakt in diesen Worten stellt er diese Frage, und das bringt mich durcheinander. Wann und wo hab’ ich schon eine Inspiration? Um den Schüler mit der geschliffenen Formulierung nicht zu enttäuschen, plappere ich drauflos: Ich gehe durch die Straßen, über Plätze, ich spaziere herum, schaue mir das Leben an, so gut ich kann. Vielleicht fällt mir etwas auf: ein Fußballplatz vor der Schule, auf dem du dir das Knie aufschlägst und dir Prellungen holst. Oder ich treffe Kinder, deren Eltern aus Ländern kommen, die ich nur vom Fern­sehen kenne. Die Sprachen sprechen, die ich in der Straßenbahn nicht identifizieren könnte. Ich gehe durch Straßen mit Namen von Menschen, die ermordet wurden, weil sie für den Frieden kämpften und heute bei vielen schon vergessen sind.

Und mit etwas Glück lande ich eines Tages in einem Klassenzimmer und erfahre ein paar Dinge, von denen ich keine Ahnung hatte. Geschichten, die nichts für die Zeitung sind, weil sie keinen was angehen. Vielleicht höre ich von Zuständen, die dringend in die Zeitung müssten, weil sie nicht in Ordnung sind. Von eitlen Politikern und Behörden, die sich nicht um die Bildung an den Schulen kümmern, schon gar nicht draußen an den Rändern, weil sie Wichtigeres zu tun haben.

Zu all diesen Gedanken hat mich die Frage des kleinen Jungen inspiriert. Ich bin allerdings nicht auf den Burgholzhof gefahren, um herumzuschnüffeln. Der Gast erobert an einem solchen Tag den Außenposten mit der weißen Fahne und zieht danach ab mit dem Plan, irgendwann den Dingen auf den Grund zu sehen.

Ein kleine Anekdote aber darf ich verraten, sie handelt vom „Klassenrat“ an diesem Morgen: Die Kinder sitzen im Kreis und tragen vor, was ihnen gefällt und was nicht. Ein Mädchen sagt: Ich will nicht, dass dieser Junge aus der anderen Klasse in mich verliebt ist. Das Mädchen und der Junge sind neun, und bei dieser Geschichte, so stellt sich heraus, handelt es sich um einen klassischen Stalker-Fall. Irgendwas ist schiefgelaufen für den Jungen bei seinen Versuchen, mit anderen Kontakt aufzunehmen. Dieser Vorfall ist kein Kinderkram. Er spiegelt eine Krankheit unserer Zeit: die Unfähigkeit, jenseits der Laptops, Tablets und Mobiltelefone Bindungen und Freundschaften einzugehen. Nicht ohne Grund treffen sich heute die Einsamen auf „Kuschelpartys“.

Goodbye, Burgholzhof, der ewige Anfänger hat wieder was gelernt.



 

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