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Donnerstag, 08. Juni 2017, 1800. Depesche

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BETR.: HAUPTBAHNHOF STUTTGART



LIEBE GÄSTE,

im Stuttgarter Hauptbahnhof, das ist beschlossen, wird ein Hotel gebaut - und darunter eine Shopping Mall.

Was in Stuttgart läuft, daran will ich heute mit einem Auszug aus einer Rede erinnern, die ich vor mehr als sechs (6) Jahren - am 31. Januar 2011 - bei der Montagsdemo gegen Stuttgart 21 vor dem Bahnhof gehalten habe:

"(...) Man kann mit der Eisenbahn, wenn sie gerade mal fährt, auch eine nützliche Reise machen, zum Beispiel nach Frankfurt am Main, um dort die Paul-Bonatz-Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum zu besuchen. Das habe ich gerade gemacht, und weil ich mir nicht anmaße, meine Sicht der Dinge als Maßstab zu nehmen, zitiere ich an dieser Stelle Dieter Bartetzko von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Er schreibt über Paul Bonatz und den Stuttgarter Hauptbahnhof:

'Zu erkennen, dass die Bauherren von Stuttgart 21 mit diesem einzigartigen Denkmal so ignorant und stumpfsinnig umgehen wie 1928 die fanatischen Funktionalisten, die den Bau als reaktionären Giganten diffamierten, bleibt dem Besucher überlassen – denn nur mit extrem großen Scheuklappen könnte man im Deutschen Architekturmuseum die Verstümmelung des Stuttgarter Hautbahnhofs als Lappalie abtun.'

Die extrem große Scheuklappe ist heute das Symbol der Stuttgarter Stadtplanung; es passt gut zum Ross im Stadtwappen.

Was mir in den vergangenen Wochen aufgefallen ist: Sobald man Begriffe wie Historie, Denkmalpflege oder Kulturgeschichte auch nur ausspricht oder hinschreibt, kommen die S-21-Befürworter ums Eck und verbreiten die Phrasen, man romantisiere, verkläre, trage die rosarote Brille. Das ist ihre Rechtfertigung für ihre totale Geschichtslosigkeit.

Seltsamerweise erinnern sich die gleichen Leute immer dann an Geschichte, wenn sie sich und uns den Bonatz-Bau als Nazi-Monument zurechtlügen. Nazi geht immer, wenn es um die Diffamierung von Gegnern geht, das kennen diese Leute aus dem Fernsehen. Selbstverständlich werden sie den Unsinn vom faschistisch geprägten Baumeister auch wieder verbreiten, wenn sie den Südflügel zertrümmern, dieses Dokument einer Architekturgeschichte, die zurückreicht bis zu den Ägyptern. Sie erkennen nicht, was da vor ihnen steht, sondern beurteilen dieses Denkmal mit seiner einzigartigen Dynamik nach ihrem Privatgeschmack. Ein Geschmack, der schlecht ausgebildet ist, sich an den Erkenntnissen von Tourismus- und Spesenreisen in sogenannte moderne Großstädte irgendwo in der weiten Welt orientiert.

Diese Leute haben nicht das geringste Gefühl und auch nicht den Sachverstand dafür, wie die Stadt Stuttgart ihre Identität, ihren Charakter und ihr Gesicht verliert – wie die Stadt immer mehr zu einem austauschbaren Sammelsurium von Büro- und Wohneinheiten in der Innenstadt verkommt. Die Politiker dieser Stadt leiden an ihrem Betonkomplex.

Die Methode Stuttgart 21 strahlt längst aus. Bald werden wir erkennen, was an der Paulinenbrücke passiert, in diesem inzwischen zum Geisterviertel mutierten Quartier. Man nennt es jetzt Quartier S, und dieser Name ist - wie auch die Bezeichnungen Mailänder Platz, Pariser Platz, Da Vinci oder ähnliche Großkotzigkeiten - ein Beispiel dafür, wie man einem Ort die Identität raubt und die Menschen aus der Stadt hinausbaut. Man wird die eine oder andere alte Fassade stehen lassen, so wie hier am Bahnhof, und das ist bezeichnend.

(Nachtrag: Interessant, dass man "Quaritier S" später in "Das Gerber" und "Da Vinci" in "Dorotheenquartier" umbenannt hat, um Identität vorzutäuschen.)

Meine Damen und Herren, Sie kennen alle den Schriftzug mit dem Hegel-Zitat hier an der Frontseite des Hauptbahnhofs, eine Arbeit und ein Geschenk des amerikanischen Concept-Künstlers Joseph Kosuth.

Joseph Kosuth hat im Zusammenhang mit Stuttgart 21 Folgendes gesagt:

'Selbst wenn etwas nicht vollständig abgerissen wird, so lässt man in der Regel nur die Fassade stehen und baut dahinter praktische Gebäude. Das ist ein rückschrittliches Architekturverständnis. Architektur hat die Psychologie eines Ortes zu konservieren, dadurch ist es uns Menschen möglich, eine Verbindung herzustellen zu den Menschen, die vor uns dagewesen sind. Durchbricht man diese Logik, indem man nur die Fassade stehen lässt, verändert man die Städte, in denen wir leben, in eine Art Euro-Disneyland.'

Der Künstler Kosuth sagt uns: Es geht gewissen Stadtplanern, Politikern nicht darum, Altes und Neues zu verbinden, wie es große Architekten andernorts vormachen. Es geht ihnen nicht darum, Entwicklungen zu erkennen und daraus zu lernen. Deshalb reagieren sie so allergisch, wenn sie das Wort Geschichte hören und ihren dummen Spott über ihren eigenen Opa ablassen, sobald man sie an die Errungenschaften der Vergangenheit erinnert. Diese Leute - man findet sie in den Wahlkampf-Quartieren der Parteien - sind früh vergreist und halten ihre Verbohrtheit für Fortschrittsdenken. Albert Einstein hat gesagt: 'Fortschritt ist der Austausch von Wissen.' Bei uns bedeutet Fortschritt Ignoranz von Geschichte und Wissen. Den Austausch von Wissen haben Politiker durch die Floskel Kommunikation ersetzt, ein anderes Wort für billige Propaganda.

Euro-Disneyland, das ist die Zukunft, meine Damen und Herren, darauf laufen Projekte wie S 21 hinaus. Euro-Disneyland bedeutet Dagobertismus, auch Casino-Kapitalismus genannt. Euro-Disneyland ist das, was sie meinten, als sie in ihrem Größenwahn vom neuen Herz Europas faselten. So wird Stuttgart ein Allerweltsgebilde aus Shopping Malls, Apartment- und Bürokomplexen.

Da die Beton-Planer ja die Zukunft, den Fortschritt und vor allem, wie sie glauben, das Marketing erfunden und gepachtet haben, fragt sich der halbwegs wache Marketingmensch: Was wollen sie eigentlich mit ihrer Konfektionsware? Sollen Euro-Disneyland-Buden das schaffen, was sie so gern als Marke deklarieren? Sie produzieren keine 'urbane Marke', keine 'Alleinstellungsmerkmale' – um in ihrem läppischen Sprachgebrauch zu bleiben – sie fabrizieren Wortmüll und Logos, über die jeder Grafiker lacht, der noch einen rechten Winkel in seinem Computer von einem Eierfleck auf seiner Hose unterscheiden kann.

Meine Damen und Herren, seltsamerweise reagieren die Menschen blitzschnell auf Dinge wie den Dioxin-Skandal. In meinem Bio-Supermarkt ums Eck gab es prompt keine Eier mehr. Warum aber reagieren viele nicht, wenn man ihr Stuttgart zwar nicht mit Dioxin, so doch mit einer menschenfeindlichen Stadtplanung vergiftet. Da müsste doch der Satz, wonach man einen Menschen mit einer Wohnung wie mit einer Axt erschlagen kann, in die Zukunft führen:

Mit einer gewissen Art Städtebau, mit jenem Fassadismus, den Joseph Kosuth beschreibt, wird man viele Menschen nicht erschlagen. Aber man wird sie aus ihrer Stadt vertreiben. Denn die Stadtentwicklung schafft die Voraussetzungen dafür, wer sich was in Zukunft noch leisten und wo er wohnen und leben kann.

Wir müssen uns entscheiden, was wir wollen: Stuttgart, diese einzigartige, liebenswerte Stadt im Kessel unter den Hügeln - oder das Quartier XY, diesen betonierten Euro- und Globalpudding (...).



UND NOCH DIES AUS MEINEM TAGEDIEB-DASEIN:

Diese Woche mache ich Kolumnenpause - auch um ein wenig Material zu sammeln für neue Texte. Man findet ja überall etwas. Über Pfingsten z. B. war ich in der mir bis dahin völlig unbekannten Stadt Braunschweig, die schönere Ecken hat, als man denkt. Kaum angekommen, stand ich vor dem Wilhelm-Raabe-Haus, der Gedenkstätte für einen Schriftsteller, der auch einige Jahre in Stuttgart gelebt und gearbeitet hat. Dieser kritischer Geist setzte sich mit den Folgen der Industrialisierung auseinander und legte sich mit dem Spießbürgertum an. - Weniger später kam ich, in der Nähe des Rathauses, zum Fritz-Bauer-Platz zu Ehren des unbeugsamen Stuttgarter Juristen, der in der Nachkriegszeit trotz vieler widerlicher Anfeindungen und Intrigen Nazi-Verbrechen aufgedeckt und auch in Braunschweig ein historisches Kapitel hinterlassen hat. Stuttgart ist nicht gerade ein Musterbeispiel für die Aufarbeitung der eigenen Geschichte.

Noch kurz zum Flaneursalon live: Am 17. Oktober sind wir in Untertürkheim, an einem eher unbekannten Ort. Bei unserem Gastspiel in einem als Club ausgebauten Industriekeller machen der virtuose Halbsatz-Komiker Rolf Miller, das schräge Folklore-Duo Loisach Marci und die Sängerin Anja Binder mit. Die Zahl der Plätze ist begrenzt, es gibt bereits jetzt online und telefonisch einen Vorverkauf: EASY TICKET



DAS WORT HOTTES IM THEATERHAUS

Horst Tomayer - Satiriker, Schauspieler, Dichter - war ein anarchistisches Lebensgenie und ein nicht zu bremsendes Fahrradtier. "Tomayers Ehrliches Tagebuch" in "konkret" ist literarische Legende. 2013 starb er im Alter von 75 Jahren in Hamburg. Jetzt gibt es ihm zu Ehren auch in Stuttgart einen angemessenen Abend - an diesem Freitag, 20.15 Uhr.

Marit Hofmann, Horst Tomayers Redakteurin bei „konkret“, sein Stuttgarter Schauspielkollege Christoph Hofrichter und sein Leibregisseur Fritz Tietz tragen das Wort Hottes in die Welt und lesen aus seinen berühmten „German Poems“, „Deutschen Gesprächen“ und „Ehrlichen Tagebüchern“, zeigen Fotos aus seinem rasanten Radfahrerleben sowie satirische Kurzfilme.

Rampensau Horst Tomayer ist also in Bild und Ton dabei. Nach erfolgreicher Premiere des Programms auf Einladung der PARTEI Brandenburg sagte eine Zuschauerin, sie habe „bei ein und derselben Veranstaltung innerhalb überschaubarer Zeit sowohl laut gelacht als auch haklefeucht geweint“.

>> Karten: 0711/4020720







 

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