Bauers Depeschen


Dienstag, 23. August 2016, 1667. Depesche

FLANEURE AUF DEM PLATZ

Am Freitag, 7. Oktober, nehme ich auf Einladung mit kleiner Flaneursalon-Besetzung an der zweitägigen Aktion "Platz da?!" im Hospitalhof teil - mit dem Gitarristen Steve Bimamisa und der jungen südafrikanischen Sängerin Thabile.



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LIED DES TAGES



Die aktuelle StN-Kolumne:



SALVEN, GUTMÜTIG BRUMMEND

Als ich nach zwei Wochen aus meinen Sommerferien zurückkam, war nichts mehr wie zuvor. Ich spurtete zum Supermarkt Cap am Hölderlinplatz und holte mir Klopapier, 72-Stunden-Deo und zehn Büchsen Ravioli von Maggi, eine davon ­vegetarisch, falls ich heimische Kriegsflüchtlinge ­aufnehmen müsste. In meiner Gegend ­wohnen viele Grüne und Fleischlose.

Bekanntlich hat die Regierung die Bevölkerung aufgerufen, sich sofort für den Ernstfall mit Vorräten zum Überleben einzudecken. Die Hamsterkäufe sollen für mindestens zehn Tage reichen. Ich bin mir nicht sicher, ob sich meine Investition noch lohnen wird – und ob ich mir womöglich in der Rosenberg-Apotheke noch etwas Jod besorgen soll, wegen der A-Bomben. Wenn der Bunkerproviant in einem der reichsten Länder der Welt mit der erfahrensten Verteidigungsuschi der Welt für nur zehn Tage angelegt wird, sind wir mit Sicherheit am elften Tag tot. Von mir blieben immerhin ein paar angefressene Ravioli-Büchsen von Maggi zur Mahnung.

Aber: Ruhe ist bekanntlich die erste Bürgerpflicht. Brust raus, Bauch rein. Zum Glück habe ich noch vor der Apokalypse wenigstens eines meiner vielen Versprechen wahr gemacht, auch wenn sich daran außer mir niemand erinnern wird: Zwei Tage, nachdem das deutsche Fußballteam bei der EM in Frankreich 0:0 gegen Polen gespielt hatte, kündigte ich in einer ­Kolumne an, endlich mal Polen zu besuchen. Darauf war ich gekommen, weil der deutsch-polnische Vertrag über gute nachbarschaftliche Beziehungen fast auf den Tag genau seit 25 Jahren bestand.

Also flog ich nach Krakau. Ich erzähle das, weil ich einige Tage nicht da war und deshalb meine Kolumnenpflicht zum ­Thema „In der Stadt“  nur mit der Schilderung eines Auswärtsspiels erfüllen kann. Polen hat sich zuletzt in eines der  Länder verwandelt, deren ­nationalistische Regierungen man heute Autokratien nennt. Davon sieht und riecht unsereins als Wurm im Massentourismus  nichts. In den ­Krakauer Jazzclubs wird heute immer noch gute Musik gemacht, und die Brotsuppe schmeckt auch nicht schlechter.

Der Massentourismus ist eine merk­würdige Sache, auch wenn ich  aus Neugier überall mitmache. In Krakau bieten Prospekte gleichzeitig ­Touren in die Altstadt, ins Salzbergwerk und zu den Gedenkstätten Auschwitz/­Birkenau an.

Zusammen mit einigen jungen Schotten und Franzosen fuhr ich zu einer Führung in die ehemaligen Vernichtungs­lager der ­Nazis. Auf dem Gelände von Auschwitz herrschte großer Betrieb, ­Rummel. Da ich aber weiß, dass die Menschen an diesem Ort dem Bösen und der Banalität des Massentourismus mit sehr unterschiedlichen ­Gefühlen begegnen, will ich nicht viel dazu sagen. Die Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Nazis, die bis heute meine Vorstellungskraft sprengen, kann an diesem Ort  jeder nur mit sich selber führen. Mir gelang es nicht, Auschwitz intensiv und halbwegs nachdenklich zu erfahren. Unsere Führerin bespielte uns wie eine Sprech­maschine ohne Ausschaltknopf. Stille ­Momente fand ich erst unter freiem Himmel in ­Birkenau – die Größenordnung dieses KZ war mir so  nicht bewusst gewesen.

Zurück in Krakau, ging die Reise – nach ausgiebigen Spaziergängen – in einem hochmodernen ICE weiter nach Danzig. In der Hafenstadt an der Ostsee war gutes Badewetter – und der Dominikanermarkt, ein ausgedehnter Rummel, noch voll im Gang. Nach Danzig gelockt hatte mich ­allerdings etwas anderes: die Erinnerung, wie ich mich als junger Kerl durch „Die Blechtrommel“ von Günter Grass kämpfte, ein Unter­fangen, das mir  nicht  so viel ­Vergnügen bescherte wie später Volker Schlöndorffs gleichnamiger Film. Grass hin oder her: Im Kopf festgesetzt hat sich bei mir für immer das „Blechtrommel“-Kapitel mit der Polnischen Post von Danzig.

Jahrzehnte später stehe ich nach einem kurzen Fußmarsch vom Bahnhof endlich vor diesem riesigen Backsteingebäude in der Altstadt, einem Denkmal für den Widerstand gegen den deutschen Faschismus. In der „Blechtrommel“ ist der Trommler Oskar in das Gebäude geraten, weil ein Post­beamter seine Trommel reparieren soll. Es ist  der 1. September 1939. Um 4.45 Uhr greifen SS-Truppen und Polizeieinheiten der Freien Stadt Danzig das Postamt an. Der Zweite Weltkrieg hat begonnen. 50 militärisch ­ausgebildete Postler verteidigen ihr Haus heldenhaft fast 15 Stunden lang gegen den deutschen Angriff. Acht von ihnen ­sterben im Kampf, sechs weitere, darunter ein ­zehnjähriges Mädchen, später im ­Krankenhaus. Die Überlebenden werden im Oktober 1939 nach einem Urteil des ­Kriegstribunals hingerichtet – 1997 wird dieses Urteil vom Landgericht Lübeck als „widerrechtlich“ aufgehoben.

In der „Blechtrommel“ hab’ ich noch mal nachgelesen: „In Höhe der Schalter­halle schlugen zwei Panzerabwehrgranaten ein (. . .). Die Salven der Linienschiffe im Freihafen, der Westerplatte gegenüber, ­rollten fern, gutmütig brummend und gleichmäßig – man gewöhnte sich daran. Ohne von den Männern bei den Verwundeten bemerkt zu werden, verdrückte ich mich aus dem Lagerraum für Briefsendungen, ließ meine Trommel im Stich und machte mich ­abermals auf die Suche nach Jan, meinem mutmaßlichen Vater . . .“

Ich verbrachte viel Zeit vor und in der Post, einem gut gemachten Museum. An solchen Orten spüre ich, wie Geschichte lebendig wird und in die Gegenwart hineinführt. Wie widerwärtig kommt da jeder Hinweis aus der rechten Ecke daher, der Nazi-Terror liege doch so lange zurück. In

Wahrheit ist seit dem Zweiten Weltkrieg nicht einmal so viel Zeit vergangen, dass es die Stadt Stuttgart inzwischen ­geschafft hätte, ein NS-Dokumentationszentrum einzurichten. Aus gutem Grund fiel mir in Danzig das frühere Hotel Silber am Rand des neuen Einkaufszentrums ­Dorotheen-Quartier ein: In diesem Gebäude, vor wenigen Jahren von engagierten Bürgern vor dem Abriss gerettet, war von 1919 bis 1928 die Oberpostdirektion der Deutschen Reichspost untergebracht. Danach zog das Polizeipräsidium mit seiner politischen Abteilung ein; 1937 wurde daraus die Stuttgarter Gestapo-Zentrale, Schauplatz grausamer Verbrechen. Das frühere Hotel Silber soll – wenigstens teilweise – 2018 als Lern- und Gedenkort eröffnet werden. 73 Jahre nach dem Ende der Nazi-Diktatur, mitten in einer Zeit neuer Autokraten und Kriegswarnungen.



 

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