Bauers DepeschenSamstag, 23. Juli 2016, 1659. Depesche![]() Der Klick zum ![]() LIED DES TAGES ![]() ![]() Die aktuelle StN-Kolumne: ![]() ![]() SCHWARZER KRUG ![]() An zwei heißen Tagen in der Stadt bin ich den Geschichten zweier Männer begegnet, Geschichten, die einen an kalten Tagen etwas wärmen könnten. Leider werde ich einen der beiden Männer nicht mehr kennenlernen. ![]() Doch halt, ich hab noch einen anderen Mann getroffen, den ich erwähnen muss, weil ich ihn lange nicht gesehen hatte. Hasmet sah aus wie früher, und ich sagte verdutzt: Wie alt bist du eigentlich? Bald sechzig, antwortetet er, und ich sagte: Verdammt, wir kennen uns seit mehr als dreißig Jahren. Früher arbeitete Hasmet in Kneipen. Sein Vater Ali Taner war Stuttgarts berühmtester türkischer Wirt: In den Achtzigern eröffnete er unter anderem das legendäre Litfaß im Schwabenzentrum. Vor zehn Jahren ist er gestorben; die ehemaligen Litfaß-Räume werden heute von dem Club White Noise bespielt. ![]() Ich habe Hasmet nicht gefragt, ob er Erdogan für einen Scheißkerl hält, ich habe in dem Moment nicht dran gedacht und will auch in Zukunft nicht jeden Türken, den ich kenne, danach fragen. Hab lieber nachgeschaut, ob Hasmets Nummer noch im Taschentelefon gespeichert ist. Vielleicht sollten wir mal über die alten und die neuen Zeiten sprechen, bevor der Winter kommt und wir zu alt sind. ![]() Einige Stunden später lande ich am Erwin-Schoettle-Platz in Heslach. Am Vormittag hat mich in der S-Bahn draußen in der Prärie eine Mail erreicht: „Schinken“ tot – alles Nähere in der Sakristei. ![]() Die Sakristei ist eine fast 100 Jahre alte Kneipe bei der Matthäuskirche und berühmt für ihre Fußballkultur. Zurzeit herrscht in dem Laden Vorsaisonfieber. Am 8. August spielt der VfB in seinem ersten Zweitligaspiel seit 40 Jahren ausgerechnet gegen den FC St. Pauli: Neben Anhängern des VfB und der Kickers treffen sich in der Sakristei traditionell auch Fans des Hamburger Kiezclubs. Etliche von ihnen werden vor dem Spiel aus St. Pauli kommen; in der Heslacher Eckkneipe, das hat sich weithin herumgesprochen, gibt es einen „St. Pauli Keller“. ![]() Zurzeit steht auf dem Sakristei-Tresen ein mit schwarzer Folie umwickelter Krug. Die Gäste sammeln für „Schinken“, und sie wissen noch nicht, an welchem Tag er auf welchem Friedhof beerdigt wird. Es wurde eine anonyme Beisetzung angeordnet. Er bezog eine kleine Rente und lebte allein. ![]() Neulich wollte die Sakristei-Wirtin Alexandra „Alex“ Milchraum „Schinken“ das Abendessen bringen und fand ihn tot in seiner Wohnung in der Möhringer Straße. Der Mann war achtzig und vor Kurzem operiert worden. Doch niemand in der Sakristei konnte sich vorstellen, dass „Schinken“ jemals stirbt. Er gehörte zum Lokal wie die Fußballerfotos an der Wand und das James-Dean-Plakat neben der Klotür. Ein Foto fehlt zurzeit, die kahle Stelle fällt sofort ins Auge. Alex hat es abgenommen, um es vergrößern zu lassen. Es zeigt den Stammgast, der mit richtigem Namen Siegfried Köhler hieß und den alle „Schinken“ nannten, weil er gelernter Metzger war. Vor dem Lokal werden die Gäste einen Blumenkasten aufstellen und ihn regelmäßig mit einem Bier auf „Schinken“ gießen; an diesem Sonntag gibt es in der Sakristei eine Trauerfeier für ihn. Er war ein schwäbischer Bruddler und jeden Tag an seinem Platz in der Kneipe – jahrzehntelang, schon als Alexandras Stiefvater Heinrich Jung noch das originelle Lokal führte. ![]() Damit komme ich zu einem anderen Mann, der in einer anderen Ecke der Stadt Familiensinn entdeckt hat im Leonhardsviertel, wo er seit zehn Jahren wohnt. 1948 in Offenbach geboren, kam er 1969 zum Architekturstudium nach Stuttgart – und ist für immer geblieben. Heute kennt man den Architekten Jim Zimmermann vor allem als Fotografen: Er macht sehr schöne Bilder, die oft an Filmszenen erinnern. Seit zehn Jahren lebt er im Rotlichtmilieu, ohne je infiziert worden zu sein. So gut wie nie hat er in den typischen Bars des Viertels verkehrt. Wenn ihm nach einem Bier ist, geht er in die Kiste, den kleinen Jazzclub an der Hauptstätter Straße, oder auch mal in die Uhu-Bar. ![]() Nur ein paar Häuser weiter hat sich Jim 2013 in den Räumen über dem ehemaligen Café der legendären Bäckerei des Ehepaars Hans-Georg und Helga Schmälze niedergelassen (in der Bäckerei selbst ist heute das DGB-Beratungszentrum Basis). In den Abstellräumen des Ende 2011 geschlossenen Ladens hat die Stadt als Hausbesitzerin Jims heutige Wohnung eingerichtet, und in der früheren Backstube hat er sich ein Atelier gestaltet für kleine Ausstellungen und Theaterabende – mit Platz für kaum mehr als 20 Gäste. ![]() Bis 2005 hat Jim als Architekt gearbeitet, erst als Angestellter, später in einer Gruppe von Freien. Dann hatte er genug vom Honorargefeilsche mit den Bauherren. Er komme aus einer Arbeiterfamilie und habe nie Probleme gehabt, Jobs aller Art zu machen, sagt er. Um seine Rente aufzubessern, arbeitet er heute ein paar Tage im Monat als Nachtwächter in der Staatsgalerie, sitzt bis zum Morgen vor den Videoschirmen des Sicherheitssystems. Die Polizei ist bisher nur nach Fehlalarmen aufgetaucht. Das Museum gilt Banditen als uneinnehmbar. ![]() Jim sagt, er liebe das Leonhardsviertel. Sieben Jahre hat er zunächst in der Weberstraße gewohnt, neben den Bars. Manchmal hat er zugeschaut, wie die Kleintransporter neue Huren für die Puffs lieferten. Die Frauen, sagt er, betrachte er als ganz normale Nachbarinnen, genauso hätten sie auch ihn respektiert. ![]() Die Fotografie war immer seine Leidenschaft, er arbeitet für kleine Bühnen und Kulturprojekte. In der Altstadt ist er schon lange aktiv. Einst hat er die Werbung gestaltet für das unvergessene „Hoffest“ im Leonhardsviertel. 1999, als es noch zwei Buchhandlungen, den Käseladen, den Bäcker, den Metzger und den Goldschmied gab. Der Hoffest-Slogan lautete: „Das freundliche Stück Altstadt zwischen Wilhelmsplatz und Gustav-Siegle-Haus“. Genau diese Botschaft verkörpert Jim Zimmermann. Unaufgeregt, mit der Gelassenheit des erfahrenen Städters engagiert er sich für seine kleine Heimat. Wer sich für das Leonhardsviertel interessiert, ist bei ihm richtig. Auch seine Räume sind eine Art Sakristei. ![]() ![]() |
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