Bauers DepeschenSamstag, 09. Juli 2016, 1650. DepescheDER FLANEURSALON am 16. Juli im Galerienhaus Stuttgart ist ausverkauft. ACHTUNG, DEMO Am 16. Juli findet angesichts der jüngsten Ereignisse eine große Samstagskundgebung gegen Stuttgart 21 auf dem Schlossplatz statt. Beginn 13:30 Uhr. Es reden Winfried Wolf, Hannes Rockenbauch und unsereins. Stefan Siller spricht ein Grußwort, Angelika Linckh moderiert. Musik machen die Trommlergruppe Banda Maruca und das großartige Trio des Akkordeonisten Aleks Maslakov: mitreißender Funk-Jazz. SCHMUDDEL-BANKETT Am Samstag, 20. August, machen wir wieder unser Schmuddel-Bankett in der Leonhardstraße. Live-Musik u. a. mit Steve Bimamisa & Freunden. Feste Nahrung & Sanfte Flüssigkeiten. Denkanstöße. Der Klick zum LIED DES TAGES Die aktuelle StN-Kolumne: WHISKY, VINO UND ABSINTH Es war ein heißer Morgen, dieser 8. Juli 2016, als ich durch die Straßen ging und der Himmel blau war wie ein französisches Trikot. Man spricht an solchen Tagen gern vom „Morgen danach“, als wäre am Abend zuvor Denkwürdiges geschehen. Ich konnte nichts Besonderes feststellen. Auf den Bordsteinen der Stadt lagen nicht entschieden mehr Menschen als sonst, die sich in der Depression der Nacht aus dem Fenster gestürzt hatten. Die deutschen Fußballer hatten am 7. Juli 2016 im Halbfinale der Europameisterschaft gegen ihre französischen Kollegen 0:2 verloren, und womöglich ging diese Nummer vielen deutschen Fans und ihren depperten Party-Mitläufern weit mehr an die ohnehin strapazierten Nieren als den Fußballern selber. Selbstverständlich war Löws Team ohne jede eigene Schuld aus dem Turnier geflogen: Ein rachsüchtiger italienischer Schiedsrichter und ein global herumgeisternder Teufel namens „Pech“ hatten sich gegen die Deutschen verschworen und alles vermasselt. Die Wahrheit erfahren wir wie immer im Fernsehen: Wenn, sagen wir mal, die Spanier ein Spiel dominieren, aber kein Tor machen und verlieren, hat ihre falsche, nicht effektive Taktik Schuld. Machen es die Deutschen keinen Deut besser, hat am Ende eben der Gegner verdammtes Glück gehabt und völlig zu Unrecht gewonnen. In Samuel Becketts „Warten auf Godot“ heißt es über den Deutschen: „Er schimpft auf seinen Schuh, und dabei hat sein Fuß Schuld.“ Pardon, ich habe geschummelt. Der Ire Beckett hat nicht nur die überheblichen Deutschen, sondern die Menschen an sich gemeint. Am Morgen gehe ich zum Institut français am Berliner Platz, muss ein wenig spionieren. Alles ruhig. Nirgendwo ein Hinweis auf ein Fußballspiel. Im selben Gebäude ist das französische Konsulat untergebracht. Im Treppenhaus hängen Fotodokumente über die Geflüchteten unserer Zeit. Vor dem Konsulat im dritten Stock fragt mich eine Frau: Monsieur, kann ich Ihnen helfen? Nein, sage ich, ich bin nur ein bisschen neugierig – ob Sie auf das Fußballspiel reagiert haben. Madame sagt: Nein, wir haben Wichtigeres zu tun – und ich merke, dass es Zeit ist, Adieu zu sagen. Früher, als ich jung war wie ein Fußballspieler, wäre ich an einem Morgen wie diesem in ein Bistro eingekehrt, irgendwo in Gaisbourg. Ich hätte ein Gläschen Absinth bestellt, mir eine Gitanes mit gelbem Maisblatt angezündet und an der Jukebox einen Chanson von Georges Brassens oder ein Lied mit Akkordeon gedrückt. Unterm Arm hätte ich eine Ausgabe der Zeitung „Libération“ gehabt, auch wenn ich kaum mehr Französisch kann als Trottoir, Chaiselongue und Griezmann. Heute sind mir solche internationalistische Aktionen zu aufwendig, zumal man ja mit der Eisenbahn schon in ein paar Minuten in Frankreich ist, in einem Land, wo es sogar besseren Absinth geben soll als in Gaisbourg. Am selben Morgen weiter in die Marienstraße. Auf dieser merkwürdigen Zentrumspiste mit ihren denkwürdigen Gerüchen breitet sich das ganze chaotische Sammelsurium einer zufällig zusammengewürfelten Stadt aus. Ramschläden, Goldankauf, Fast-Food-Buden, Spielhöllen. Ein Beate-Uhse-Shop und ein Puff. Es gibt auch das Wolle-Fachgeschäft Rödel und das Zoohaus Schreiter oder die Riesenkneipe Sophie’s Brauhaus mit den alten Kinoplakaten von James Dean und Gina Lollobrigida im Treppenhaus; und das Herz tut mir weh, wenn ich in der Nachbarschaft die verwitterten Reklameschilder der früheren Kali-Lichtspieltheater sehe, die letzten Reste des Schuhschachtelkinos. In diesem inzwischen heruntergekommenen Haus habe ich früher oft wunderbare Filme im Rasiersitz geguckt. Spätestens am Mittag ist die Fußgängerzone sehr belebt, die Leute sitzen unter Bäumen und Sonnenschirmen und, äh, konsumieren. An der Ecke Sophienstraße hat abends nach wie vor der längst legendäre Billardsaal im Quartier geöffnet. Auf einem Schild vor dem Eingang verspricht der Laden „Whisky, Vino“ und – wer sagt’s denn – „Absinth“. Absinth, in Frankreich „Grüne Fee“ genannt, hat eine verrückte Geschichte. Beliebt bei Malern und Dichtern, wurde der Schnaps zum Mythos. „Die toten Wörter stehen auf und sind aus Stein und Bein“, schwärmte Charles Beaudelaire, wenn er mit dem Stoff seine Schreibblockade bekämpfte. Zu den bekennenden Absinth-Genießern gehörten Genies wie Vincent van Gogh, Henri Toulouse-Lautrec, Oscar Wilde, Ernest Hemingway. Das Getränk war lange – in Frankreich seit 1915 – verboten, weil man dachte, das Nervengift Thujon im Absinth löse verheerende Folgen wie Krämpfe, Wahnvorstellungen und Kollapse aus. In Deutschland stand das Getränk von 1923 bis 1991 auf dem Index. 2008 fanden Forscher heraus, dass der Thujon-Gehalt in der Grünen Fee früher relativ gering war und es wohl am extrem hohen Alkoholgehalt von bis zu 70 Prozent lag, wenn die Trinker ausrasteten. Lange vor dem Verbot zählte auch der französische Dichter Arthur Rimbaud zu den Absinth-Junkies. Ob und wo er sich den Kultschnaps besorgte, als er im Februar und März 1875 in der Stuttgarter Marienstraße wohnte, vermutlich im Haus Nummer 10, ist mir nicht bekannt. Ein auf Deutsch geschriebener Brief aus dieser Zeit an einen Freund deutet darauf hin, dass Rimbaud damals auf andere spirituelle Flüssigkeiten ausweichen musste: „. . . Hier ist alles ziemlich schäbig – mit einer Ausnahm: Riessling, von dem ich ein Glaas im Angsicht der Hähnge, die ihn gebore werde sahn, auf deine schtrodzende Gesundheit leerren werd. Die Sonne scheint und es friert, es ist unerträglich.“ Rimbauds Marienstraßen-Kapitel ist uns etwas besser bekannt, seit die amerikanische Rocksängerin Patti Smith bei ihrem Konzert 2014 auf der Freilichtbühne Killesberg einen eigens für diesen Auftritt geschriebenen Song über ihr Dichter-Idol vortrug. Er handelte von Rimbauds sagenumwobenen Treffen mit seinem Kollegen und Lebensgefährten Paul Verlaine in Stuttgart. Daran wollte ich heute, kurz vor dem Fußballfinale und wenige Tage vor dem französischen Nationalfeiertag am 14. Juli, noch einmal erinnern – mit ausdrücklichem Respekt. |
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