Bauers Depeschen


Samstag, 18. Juni 2016, 1640. Depesche



FLANEURSALON IM GALERIENHAUS

Am Donnerstag, 14. Juli, ist der Flaneursalon im Galerienhaus Stuttgart, Breitscheidstraße 48. Beginn: 19.30 Uhr. - Es machen mit: Vater & Tochter, nämlich die Musiker Zam Helga und Ella Estrella Tischa, sowie - erstmals - der Dichter und Bühnenkünstler Timo Brunke. Karten gibt es direkt im Galerienhaus - dienstags bis freitags von 14 Uhr bis 19 Uhr und samstags von 11 Uhr bis 16 Uhr. Galerienhaus: 0711/65 67 70 68. Tickets diesmal 10 € - Jubiläumspreis zum Elfjährigen des Hauses.



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LIED DES TAGES



Die aktuelle StN-Kolumne:



NACHBARN

Es hat mit einem Zufall zu tun und mit meiner Gewohnheit, einen Hut zu tragen, dass ich mich heute mit dem Nachbarn beschäftige. Ich meine nicht einen bestimmten guten, bösen oder schleimigen Nachbarn. Es geht um seinen Mythos. Als das deutsche Team am Donnerstag bei der Fußball-EM gegen Polen freundschaftlich 0:0 spielte, erinnerte das Datum fast auf den Tag genau an einen Meilenstein der Geschichte: Vor 25 Jahren, am 17. Juni 1991, unterschrieben Kanzler Kohl und Premier Bielecki den deutsch-polnischen Vertrag über gute nachbarschaftliche Beziehungen. Ein Akt der Aussöhnung, 52 Jahre nach dem Überfall von Hitlers Wehrmacht auf Polen. Leider war ich nie in Polen; mein Spaziergang vor einigen Jahren über die Stadtbrücke von Frankfurt an der Oder in die polnische Nachbarstadt Slubice zählt da nicht; es muss noch was folgen. Auch wenn in Polen heute die Nationalisten regieren.

Ich bin keiner, der Themen sucht. Wer in der Stadt herumgeht, findet immer was. Eines Samstagmorgens gehe ich in meiner Nachbarschaft Hölderlinplatz zur BW-Filiale. Auf einem Wandvorsprung neben dem Bankautomaten sitzt eine ältere Frau, sie zittert am ganzen Körper. Ich frage, ob ich einen Arzt rufen soll. Nein. Sie bittet mich, ihr Geld aus dem Automaten zu ziehen. Versehentlich reicht sie mir eine falsche Plastikkarte. Als wir die richtige gefunden haben, weiß sie ihre Geheimnummer nicht. Normalerweise erledige das ihr Mann, sagt sie, aber ihr Mann sei im Krankenhaus. Ich frage sie, ob ich ihr etwas Geld borgen soll. Ja, sagt sie, das wäre gut.

Ich kenne die Frau nicht, frage nicht nach ihrem Namen. Sie sagt, sie habe mich schon öfter in unserer Straße gesehen und wisse, wo ich wohne. Alles klar. Zwei Tage später erhalte ich eine SMS von meiner Wohnungsnachbarin: Frau X. aus unserer Straße habe einen Umschlag abgegeben. Der sei wohl für mich. Die Dame habe meinen Namen nicht gewusst. Sie habe gesagt, der Umschlag sei „für den Schauspieler mit dem Hut“.

An diesem Tag habe ich mir geschworen, nie mehr ohne Hut aus dem Haus zu gehen. Schon weil endlich meine Schauspielkunst gewürdigt wurde. Der Regisseur Sergio Leone hat mal gesagt, Clint Eastwood beherrsche zwei Gesichtsausdrücke: einen mit und einen ohne Hut. Getoppt werden kann dies nur von einem wie mir: Es gelingt mir so gut wie immer, mit und ohne Hut gleich bescheuert aus der Wäsche zu schauen.

Die Begegnung mit der Frau in der Bank beschäftigt mich bis heute: Ich weiß kaum etwas von meinen Nachbarn – sieht man davon ab, dass bei uns im Westen 40 Prozent Grüne wählen. Der Nachbar an sich hat keinen besonders guten Ruf. Das liegt ausschließlich am Nachbarn, nicht an mir. Nachbarn sind immer die anderen. In Deutschland werden jährlich 80 000 Streitigkeiten zwischen Nachbarn aktenkundig, die Hälfte davon landet vor Gericht. Nicht alle dieser Konflikte enden so schlimm wie in einem Song der Rockband Donots: „Ich töte meinen Nachbarn und verprügle seine Leiche.“ Womöglich herrschen in Nischen unserer von Egoismus geprägten Gesellschaft sogar bis heute etwas Mitgefühl und demokratische Solidarität – wie in dem schönen Lied „Der Mond ist aufgegangen“ nach einem Gedicht von Matthias Claudius: „Kalt ist der Abendhauch. / Verschon uns, Gott, mit Strafen / Und lass uns ruhig schlafen / Und unsern kranken Nachbarn auch.“

Um die Kleinbürgerkriege besser führen zu können, gibt es bei uns ein Nachbarrecht, und es war selbstredend die Häuslebauer-Hochburg Baden-Württemberg, die als erstes Bundesland 1959 ein Nachbarrechtsgesetz erließ. Darin sind beispielsweise die Höhe einer Gartenhecke und das „Hammerschlags- und Leiterrecht“ verankert – Paragrafen, dass es einem den Hut lupft.

Reichlich Schlagzeilen machte der Nachbar erst neulich, als ein AfD-Führer namens Gauland sagte, die Menschen hierzulande wollten einen schwarzen Fußballnationalspieler wie Boateng nicht als Nachbarn. Prompt konterten Schnelldenker wie der Grünen-Politiker Özdemir mit dem dummen Spruch: „Lieber Boateng als Nachbar als Gauland“. Diese Formulierung bedeutet nichts anderes als: Boateng ist nicht ganz so schlimm wie Gauland – also das kleinere Übel. Nebenbei bemerkt: Die allermeisten Leute haben wohl nicht die richtige Bankkarte, um in der Nachbarschaft eines Fußballstars zu wohnen.

Neulich war ich in Berlin und besuchte unter anderem eine Dauerausstellung im Schöneberger Rathaus mit dem Titel „Wir waren Nachbarn – 152 Biografien jüdischer Zeitzeugen“. Ich dachte an das Stuttgarter Hotel Silber. Eher zufällig unterhielt ich mich mit der Politologin und Ausstellungsbetreuerin Silke Struck. Sie berichtete, wie junge Leute die Brutalität des Nazi-Terrors erst nachvollziehen können, wenn ihnen Dokumente erzählen, wie die Nazis die Menschen in der unmittelbaren Nachbarschaft des Schöneberger Erinnerungsorts aus dem Leben gerissen und in die Vernichtungslager transportiert haben. Die Auseinander­setzung mit dieser Geschichte geht in der Rathaus-Nachbarschaft in den Straßen weiter; man kommt an Tafeln vorbei wie dieser: „Berufsverbote für jüdische Schauspielerinnen und Schauspieler. – 5. 3. 1934“.

In Schöneberg lebten einst jüdische Berühmtheiten wie Einstein, Tucholsky, Nelly Sachs, Walter Benjamin, Mitglieder der Comedian Harmonists. Der freiheitliche nachbarschaftliche Geist hat wohl dazu geführt, dass der Stadtteil heute ein Zentrum der Schwulenbewegung ist.

Viele Touristen kommen inzwischen auch nach Schöneberg, um sich in der Hauptstraße umzusehen, wo in den siebziger Jahren der Popkünstler David Bowie im Haus Nummer 155 wohnte. Als Bowie schon weg war aus Berlin, hieß die Nachbarschaft auch bei uns Community. Es begann die Sponti-Ära, und dieser Zeit verdanken wir das bis heute hoffnungsvollste Versprechen auf eine bessere Welt: ­„Anarchie ist machbar, Herr Nachbar!“

 

 

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