Bauers Depeschen


Mittwoch, 29. September 2010, 586. Depesche



ALARM, Donnerstag, 10.30 Uhr, großes Polizeiaufgebot riegelt Schlossgarten am Bahnhof und am Landtag ab.

18.30 Uhr. Bin noch immer im Park. Polizeieinsatz maßlos, verheerend.



FLANEURSALON am Sonntag, 7. NOVEMBER (19.30 Uhr), im THEATERHAUS mit:

HÄUPTLING SITTING KÜCHENBULL - Außerdem im Aufgebot: Eric Gauthier Trio, Dacia Bridges Duo, Michael Gaedt solo als The Master Of The Universe...



VERGANGENHEIT

Als Beispiel dafür, wie schnell sich die Dinge entwickelt haben, habe ich eine StN-Kolumne vom 9. Dezember vergangenen Jahres ausgegraben. Das war ein halbes Jahr vor den Massenprotesten gegen Stuttgart 21 - und acht Monate vor dem Abriss des Nordflügels am Hauptbahnhof.



GESCHENKT!

In der Eingangshalle des Hauptbahnhofs, einem Ort architektonischer Würde, hängt ein Transparent, größer als ein Leichentuch. Darauf steht: "Unser schönstes Geschenk." Dem Politikerwahn entsprechend, hat man alle Buchstaben großgeschrieben, und darunter: "Stuttgart 21 kommt. Die Jahrhundertchance für Stuttgart." Zum Verständnis: Das Jahrhundert ist noch keine zehn Jahre alt.

Warum Stuttgart 21 "unser schönstes Geschenk" sein soll, weiß kein Mensch. Wen meint man mit "unser", und womit bezahlt man das "Geschenk"? Mit unserem Geld, mit unseren Steuern. Ich weiß, es wäre ein altbackener Gedanke, mit unserem Geld zwischendurch die Klotür eines unserer verkommenen Schulhäuser zu streichen.

Auf dem Monstertransparent im Bahnhof hat man zwei rote Weihnachtspakete abgebildet, aus einem erhebt sich eine gläserne Halbkugel mit einem ICE. Auch das Kirmesherz mit dem Chirurgenschlachtruf "Das neue Herz Europas" wurde nicht vergessen. Dieser Grafikermüll läuft unter der Bezeichnung Werbung.

Unlängst hat man für Stuttgart 21 noch einmal zehn Millionen Euro oder sonstiges Monopolygeld aus der Knast-Region verplant, um eine weitere Werbekampagne für Stuttgart 21 anzuleiern. Man muss kein Gegner des Milliardenspiels sein, um auch in diesem Schritt die pure Hilf- und Ahnungslosigkeit zu sehen. Werbung soll, so sagen die Auftraggeber, der "Kommunikation" dienen. So will man die Kopfbahnhof-Zerstörung als sinnvoll vermitteln.

Als ob man mit Werbung, einer Art Hirnwäsche zum Einbrennen von Markennamen und künstlich erzeugten Lebensgefühlen, gewaltsame Eingriffe in Lebensräume, in Heimat erklären könnte. Werbung, eine Gauklerübung mit vielen nicht messbaren Werten, ist in diesem Fall nichts anderes als plumpe Propaganda mit einem läppischen Superlativ: "Unser schönstes Geschenk". Werbung?

Willst du viel, spül mit Pril.

Mit Kritik an Stuttgart 21, und seien es nur Zweifel an der dilettantischen Öffentlichkeitsarbeit, handelt man sich erfahrungsgemäß den Vorwurf des Ewiggestrigen ein. In ihrer machohaften Sucht nach Ruhm und Unsterblichkeit können die Männer des Fortschritts nicht ahnen, dass sie längst selbst von vorgestern sind. "Wir sind die gute alte Zeit von morgen", hat Karl Valentin gesagt.

Das Profil des Fortschritts trägt bei uns die Züge von Schuster, Oettinger und Mappus. Man sollte ihre Konterfeis neben das Mercedes-Symbol auf dem Bahnhofsturm montieren, sie neben dem dreizackigen Stern der Tradition als eiserne Haken des Fortschritts verewigen. Damit hätte unsere Zukunft zwar kein Zuhause, wie es die Bausparkassenwerbung verspricht, aber ein Gesicht. Das Gesicht mit Sollbruchstelle. Man wüsste schon jetzt, wie die Zukunft aussieht, und würde später begreifen, was man von der guten alten Zeit zu halten hat.

Der Kulturkritiker Gerhard Stadelmaier, ein schwäbischer Mensch in Diensten der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", hat dieser Tage beim Blick auf Stuttgart 21 von "durchgeknallten Politikern" und identisch veranlagten "Bahn-Profitmachern" geschrieben: "Diese planen mit dem Geld, das sie nicht haben und nie haben werden (also mit ,Schulden wie die Sautreiber', wie man dortzulande so etwas nennt), einen völligen megalomanen Unfug ins Blaue hinein, machen dafür aber ein solide Gewachsenes, Schönes, Tolles, Heimatliches, Wunderbares kaputt - oder ,hee', wie man dortzulande sagt." Seine Glosse hat der Autor mit dem poetischen Wort "Grasdackel" überschrieben. Man muss nicht Schwäbisch können, um die Liebe zum Hauptbahnhof, dem Bauwerk von Paul Bonatz, zu erkennen.

Wo jetzt das Leichentuch mit der schleifchenverzierten Botschaft "Unser schönstes Geschenk" hängt, sind Metzger am Werk. Sie werden den Bahnhof ausschlachten, zerlegen und ihm beide Flügel abhacken wie einer Weihnachtsgans. Zukunft gestalten heißt für die Deckler und Tunnler, die Welt so zuzurichten, dass man die Vergangenheit, die Geschichte nicht mehr erkennen oder gar von ihr lernen kann. Die Herren gehen davon aus, dass über ihre Bulldozer-Politik Gras wachsen wird, sobald sie alle Brücken zur Historie gesprengt haben. Deshalb nennt man sie Grasdackel.

Der amtierende Ministerpräsident hat dieser Tage im Fernsehen gesagt, die Stuttgarter Bevölkerung werde von der Bauschlacht am Bahnhof nichts mitbekommen, das meiste spiele sich nämlich "im Tunnel" ab. Einer wie Oettinger kann nicht anders: Politiker haben den Tunnelblick, die meisten von ihnen sehen außer dem Flughafen und ein paar Tiefgaragen selten etwas von ihrer Stadt. Mit dem Zug fahren sie sowieso nicht gern. Sie gerieten womöglich unter Menschen. Unter uns: Geschenkt!

SOUNDTRACK DES TAGES



KOMMENTARE SCHREIBEN: LESERSALON



TIPP: Weil bald wieder Weihnachten ist, hier noch der Hinweis: Es gibt für die Benefizshow "Die Nacht der Lieder" am 16. und 17. Dezember im Theaterhaus tatsächlich nur noch Restkarten (siehe "Termine").



DIE STN-KOLUMNEN

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FlÜGEL TV - Alle Schandtaten vom Bahnhof live

UNSERE STADT

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EDITION TIAMAT BERLIN (Hier gibt es mein aktuelles Buch "Schwaben, Schwafler Ehrenmänner - Spazieren und vor die Hunde gehen in Stuttgart")

www.bittermann.edition-tiamat.de (mit der Fußball-Kolumne "Blutgrätsche")

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