Bauers DepeschenDienstag, 06. März 2018, 1915. DepescheFLANEURSALON IN CANNSTATT Einen der wenigen FLANEURSALON-Abende in diesem Jahr machen wir am Donnerstag, 19. Apri, in Cannstatt - in erlesener Besetzung im schönen Saal des Stuttgarter Stadtarchivs, neben der Kulturinsel. Die Sängerin Marie Louise ist mit ihrem Gitarristen Zura Dzagnidze bei uns, der junge syrische Sänger/Gitarrist Mazen R Mohsen tritt auf, Loisach Marci muss wieder ran - und Timo Brunke führt durch den Abend. Meine Stuttgarter Lieder- und Geschichtenshow ist offiziell im Beiprogramm der Stadtarchiv-Ausstellung "Kessel unter Druck - Protest in Stuttgart 1945 - 1989". Und womöglich hab ich zu diesem Thema nebenbei auch ein paar Sätze in meinem Kessel. Das Stadtarchiv ist ohnehin einen Besuch wert: Man nennt es das "Gedächtnis der Stadt". Der Vorverkauf hat begonnen. Hier der Klick RESERVIX Hört die Signale! MUSIK ZUM TAG Die aktuelle StN-Kolumne: STERNSTUNDEN Als ich am frühen Abend ins Taxi über die Brücke nach Polen steige, sagt mir der Fahrer, man könne drüben günstig Sex und Zigaretten kaufen. Früher hatten Sex und Zigaretten in dieser Reihenfolge eine gewisse Bedeutung. Inzwischen bin ich Nicht¬raucher. Der kurze Ausflug von Frankfurt an der Oder über den Fluss nach Slubice erwähne ich, weil die Temperatur nach meiner zügigen Rückkehr an die Berliner Spree auf minus acht Grad gefallen war – und ich nur zwei Tage später bei herzerwärmendem Sonnenschein mit offener Jacke und seelisch aufgetaut zur Stuttgarter S-Bahnstation Stadtmitte schlenderte. Es war der Sonntag, als die SPD-Mit¬glieder mit ihrer Abstimmung sturzflutartig beschlossen hatten, mit ihrem nächsten Regierungseintritt ein weiteres Mal festzuhalten, dass der Hinweis auf die Sozialdemokratie in ihrem Parteinamen nicht so ernst gemeint ist, wie er klingt. Es fällt mir im Übrigen schwer, mit einer solch albernen Abkürzung wie „Groko“ Merkels Machtapparat namens große Koalition zu verniedlichen. Als ich zwischen den beiden S-Bahngleisen stand, hörte ich eine Weile in mich hinein. Konnte aber nichts hören, außer einem Magenknurren. Zwischen zwei S-Bahngleisen herumzustehen ist nicht ganz so erregend, wie die Flussufer von Brandenburg und Polen im Auge zu haben. In beiden Fällen jedoch habe ich als Herumstiefler und Herumfahrer die Freiheit, eine sinnfreie Entscheidung zu treffen und die weiteren Lebenswege dem Zufall zu überlassen. Was für ein Luxus. Eine Dame, die im Leben wesentlich mobiler auftritt als ich, gab mir am Sonntag den Rat, künftig in regelmäßigen Abständen die Endstationen der Stuttgarter S-Bahnen anzufahren. So befände ich mich weiterhin im Großraum der eigenen Stadt, könne aber weit mehr von der Welt sehen – ohne gleich ein Taxi nach Polen zu nehmen, nur weil die Zeit wegen der Teilnahme an einer Tingeltangel-Show in Frankfurt/Oder nicht reichte, eine wichtige Grenzüberschreitung meines europäischen Daseins zu Fuß zu bewältigen. Kaum zurück im heimischen Kessel, wähle ich ohne erklärbaren Grund von unseren sechs S-Bahn-Linien die Nummer 6. Nach vierzig Minuten Fahrt durch das weite Land lande ich an einem Ort, der mir – ohne jede inhaltliche Vor¬bereitung – wie kein zweiter den Blick auf die Welt öffnet: Hier wurde der Mann geboren, der eine Menge zur Entwicklung der Weitsicht beigetragen und das astronomische Fernrohr erfunden hat. Bekannt ist diese 19 000¬Seelen-Gemeinde im Kreis Böblingen unter dem Namen Weil der Stadt, weit bekannter allerdings als Geburtsort des Universalgenies Johannes Kepler. Nein, bitte, niemand darf von mir an dieser Stelle eine Betrachtung des Astrologen, Optikers, Naturphilosophen, Schriftstellers Johannes Kepler erwarten. Allein der Versuch wäre eine Respektlosigkeit sondergleichen gegenüber einem Mann, dessen Stern 1571 im heutigen Weil der Stadt aufging und noch immer die Welt beleuchtet. Er war es, der als erster Science-Fiction-Literat der Welt zum Mond flog, als viele die Erde noch für eine Scheibe hielten. Vom Bahnhof marschiere ich mit Blick auf die alten Türme hinab ins Zentrum der Gemeinde, wo ich am zugeparkten, ziemlich verlassenen Marktplatz das Stadtmuseum aufsuche. Das stattliche Hotel Krone Post gegenüber, erzählt man mir, stehe schon seit Jahren leer, und aus dem benachbarten Gasthaus mit der Aufschrift Schwarzer Adler und einem entsprechend gefiederten Vogel an der Fassade ist längst ein Wohnhaus geworden. So ist es etwas trist rund um das Rathaus in Weil der Stadt an der Würm – womit auch das beschauliche Gewässer am Tor zum Schwarzwald genannt ist. Viel los im Flecken ist nur zur Fasnetszeit. Weil der Stadt gilt als Narrenhochburg; am letzten Sonntag der Saison kamen 50 000 Menschen zum traditionellen Umzug. Mensch, dieser Kepler. Wallensteins Astrologe. In seinem Geburtshaus wurde das Kepler-Museum eingerichtet. Bei uns in Stuttgart gibt es eine nach ihm benannte Straße an der Universität, sie führt vorbei am Stadtgarten durch die Stadtteile Hauptbahnhof/Klettplatz (deren bürokratisch festgelegten Namen vermutlich noch nie jemand wahrgenommen hat). Jürgen Holwein, einer meiner Kollegen, hat mal in dieser Zeitung vorgeschlagen, Stuttgarts Flughafen nach dem Himmelsentdecker Johannes Kepler zu benennen. Er wurde – mit gewohnt weltläufigem Horizont – nach Manfred Rommel getauft. Die Mutter des großen Wissenschaftlers, die Kräuterfrau Katharina, hat man wie viele Frauen der Stadt der Hexerei angeklagt und eingekerkert. Als sie mithilfe von Anwälten freikam, starb sie bald darauf an den Folgen der Folter. An solche Schicksale sollte man denken, wenn heute vergleichsweise harmlose Verbalangriffe auf Menschen, vorzugsweise Männer, zur „Hexenjagd“ aufgebauscht werden. Was ist das, wenn ich das zwei Tage vor dem Internationalen Frauentag am 8. März sagen darf, für eine Anmaßung. Damit nähere ich mich einer anderen populären und inflationär gebrauchten Begrifflichkeit, die im Stadtmuseum in einem Wandtext erklärt wird und von ihrer verlorenen Würde erzählt. Es geht um die Bedeutung des Genies aus der Perspektive der Aufklärung. Um den „Helden des ¬Geistes“, wie man es in England definierte. Das Genie, lese ich, „ist ein Rebell gegen traditionelle Autoritäten, der bereit ist zum geistigen Wagnis und keine tradierten Lehrmeinungen übernimmt“. Vor diesem Hintergrund zeigt sich der Schwachsinn hipper Alltagssprache, die noch für jede schwammige Butterbrezel und jede lau¬warme Partyplörre das Prädikat „genial“ bereithält. Inzwischen käme es gar einer Beleidigung gleich, einen Film wie etwa „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“, als „genial“ zu bezeichnen. Dieses umwerfende, mit tiefschwarzem Humor gefärbte Kinodrama erwähne ich, weil es meinen Ausflugssonntag im Delphi in der Tübinger Straße beendete. Nie hätte ich mir träumen lassen, nicht einmal beim Blick auf die gefährlich-nächtlich schimmernde Oder, dass der Bauer im Märzen mit ein paar Schritten vor seine Haustür an einem Tag so viel Sternenleuchten erleben könnte. Das wäre fast eine Zigarette wert. |
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