Bauers DepeschenDonnerstag, 16. November 2017, 1872. DepescheAM HEUTIGEN DONNERSTAG: FLANEURSALON IN MÖHRINGEN Heute ist der Flaneursalon im Möhringer Bürgerhaus, direkt am Bahnhof. Mit Thabilé & Steve Bimamisa, Loisach Marci und Timo Brunke. Reservierungen sind per E-Mail möglich: vgrosser@gmx.de. Es gibt auch Karten an der ABENDKASSE. Beginn 20 Uhr. Saalöffnung 19 Uhr. Hört die Signale! MUSIK ZUM TAG Die aktuelle StN-Kolumne: F. L und F. L. Im Café List in der Liststraße habe ich nach dem Mittagessen meinen Hut genommen und mir etwas Höhenluft im Lehenviertel gegönnt. Eigenartig, dass ich nie zuvor die Lehenstraße und ihre Treppen bis zum Pfaffenweg mit seiner tollen Aussicht auf den Kessel hinaufgestiefelt bin, obwohl ich mal in dieser südlichen Ecke neben der Gaststätte Lehen gewohnt habe. Die Kneipe steht noch heute wie eine Eins. Das Quartier ist schöner, lebendiger und teurer geworden. Spaziergänge bewegen Leib und Seele. Zuweilen kommt sogar das Hirn in die Gänge, schon weil man sich beim Herumstiefeln ständig fragen muss: Wohin geht eigentlich deine Stadt? Einige von uns erinnern sich noch dunkel an Stuttgart 21, und alle wissen heute, dass die Glücksspielzahl 21 als Name für diese Ausgeburt des Größenwahns Humbug und Täuschung war. Wie von aufgeklärten Geistern vorhergesagt, wird das Protzprojekt nicht annähernd 2021 fertig sein – wenn überhaupt irgendwann. Inzwischen müsste es sich auch bis zum letzten Wohnungseigentümer im Gemeinderat herumgesprochen haben, dass Mietexplosion und Wohnungsnot in unserer Stadt gefährliche soziale Konflikte heraufbeschwören. Umso mehr kommt mir beim Aufstieg zum Pfaffenweg die Galle hoch, wenn ich daran denke, wie der Oberbürgermeister neulich in einer Doku des SWR-Fernsehens über den Abriss- und Mietwahnsinn in der Stadt mit den Worten zu hören war, er hoffe auf die baldige Fertigstellung von S 21 – dann könnten Wohnungen im geplanten Rosensteinviertel gebaut werden. Ein Interview für den Film hat er verweigert. Menschen, die keine Bleibe finden oder sich keine leisten können, vertröstet er mit einem Phantomstadtteil. Wenn du als Spaziergänger in der Stille des Pfaffenwegs zwischen den attraktiven Häusern ins Tal schaust, kommst du nicht auf die Idee, die Schornsteine da unten könnten Rauchzeichen einer dunklen Zukunft senden, in der die Rechten und Braunen noch stärker werden. Dann fällt mir ein, was der Philosoph und Flaneur Walter Benjamin gesagt hat: „Den Flanierenden leitet die Straße in eine entschwundene Zeit. Sie führt hinab in eine Vergangenheit, die umso bannender sein kann, als sie nicht seine eigene, private ist.“ Von der Lehenstraße musst du nur kurz in die Filderstraße abbiegen und den Irrsinnsverkehr der Hauptstätter Straße überwinden, dann stehst du auf dem ehemaligen „Platz der SA“, dem heutigen Marienplatz. Du spürst, wie schnell es hinabgeht in eine Vergangenheit, die im Sinne Benjamins nicht deine eigene, private ist – aber alles andere als entschwunden. Hat Erich Kästner einst in Erinnerung an den Nazi-Terror dazu aufgefordert, den rollenden Schneeball zu zertreten, ehe er eine Lawine wird und alles unter sich begräbt, warnt uns heute ein geflügeltes Wort vor dem Rechtsruck: Der Schnee von gestern könnte die Lawine von morgen sein. Fesselnd sind natürlich auch die Spuren, die weiter zurückliegen als die Nazi-Diktatur. Ich bin mir heute nicht sicher, ob ich vor mehr als 30 Jahren beim Gang durch die Liststraße ihre Schreibweise beachtet und bemerkt habe, dass sie nichts mit dem Komponisten Franz Liszt zu tun hat. Womöglich nicht – obwohl an Friedrich Lists einstigem Haus mit der Nummer 35 seine Büste angebracht ist. Meine Neugier richtete sich damals auf Franz Liszt, schon weil ihn der Regisseur Ken Russell 1975 in „Lisztomania“, seinem ausschweifenden Film mit dem Who-Sänger Roger Daltrey in der Hauptrolle, zum Rockstar geadelt hatte. Friedrich List wird 1789 in Reutlingen geboren. Er wird Verwaltungsfachmann und wohnt im Lauf seines Lebens mehrfach in Stuttgart. Hier arbeitet er Anfang des 19. Jahrhunderts beim Finanzamt, lehrt als Professor in Tübingen und wird 1820 als Abgeordneter in den Landtag gewählt. Als Wirtschaftstheoretiker engagiert er sich für eine bürgerliche Demokratie, ist Vordenker und Wegbereiter der Nationalökonomie. Wegen seiner scharfen Kritik an der Bürokratie und am König wird er 1822 nach Aufhebung seiner Immunität zu zehn Monaten Kerker in der Festung Hohenasperg verurteilt. Er flieht, kehrt 1824 zurück und bietet an, in die USA auszuwandern. Nach seiner vorzeitigen Entlassung steigt er in den USA zu einem Pionier der Eisenbahn auf und wird 1830 amerikanischer Staatsbürger. Drei Jahre später genießt er als US-Konsul im Großherzogtum Baden wieder Immunität auf deutschem Terrain und ist als Weltbürger ständig unterwegs. Er bringt auch die deutsche Eisenbahn in die Spur, doch die große politische Anerkennung bleibt ihm versagt. Am 30. November 1846 erschießt er sich in Kufstein/Tirol. Lists aufregendes Leben als Volkswirt hätte mich womöglich weniger interessiert, wäre ich nach meinem Spaziergang nicht auf die Verkettung Friedrich-List-Franz-Liszt gestoßen. Als sich Friedrich in den Dreißigern des 19. Jahrhunderts in Paris um die amerikanisch-französischen Handelsbeziehungen kümmert, wohnt er wie der Dichter Heinrich Heine in der Rue des Martyrs (Straße der Märtyrer). Sie essen oft gemeinsam und treffen sich mit dem Revolutionsgeneral Lafayette. Friedrich List, selbst Autor, ist seit seinem Aufenthalt in Leipzig mit Robert Schumann befreundet und stellt Heine auch Clara Schumann, die Frau des Komponisten, vor. Lists Liebe zur Musik wird von seinen Töchtern Elise und Emilie bestärkt: Beide sind eng mit Clara befreundet. Emilie, eine hoch begabte Sängerin, tritt im Leipziger Gewandhaus mit dem Dirigenten Felix Mendelssohn Bartholdy auf – und plant eine Tournee mit dem größten Pianisten seiner Zeit: Franz Liszt. Doch die Konzertreise kommt nicht in die Gänge. Das Duo Liszt & List bleibt ein Traum. Zurück in den Kessel. Schon als zwölfjähriges Wunderkind ist Franz Liszt im hiesigen Königlichen Hoftheater aufgetreten. Später gastiert er als umjubelter Superstar noch mehrfach in der Stadt, unter anderem im Hotel Marquardt. Sein Publikum sagt, er habe zwanzig Finger. Ich hätte gewettet, dass es bei uns neben der Friedrich-List-Straße auch eine Franz-Liszt-Straße gibt. Irrtum. Vergessen wurde der 1886 verstorbene Komponist und Klaviervirtuose allerdings nicht ganz: Seit 1904 steht ein Denkmal mit seiner Büste im Mittleren Schlossgarten. Damit endet meine Stuttgarter Geschichte von F. L. und F. L. |
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