Bauers Depeschen


Dienstag, 29. Juli 2014, 1325. Depesche



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Veranstaltung im Nordbahnhofsviertel

ZUR ERINNERUNG:

JOSEPH SÜSS OPPENHEIMER

An diesem Mittwoch, 30. Juli, findet auf dem Stuttgarter Galgenberg am südlichen Ende des Nordbahnhofviertels eine weitere "Waschküchen-Veranstaltung" statt. Beginn 19 Uhr. Alle Interessierten und Neugierigen sind eingeladen. Am 4. Februar 1738 wurde das Justizopfer Jospeh Süß Oppenheimer aufgrund judenfeindlicher Verleumdungen in Stuttgart hingerichtet: am Ort der heutigen Waschküchen am Nordbahnhof. Siehe auch DEPESCHE 'AM GALGEN'

Programm:

> Szenische Lesung aus dem Drehbuch "Joseph Süß" von Dieter Fuchs - Regie: Jürgen von Bülow, Schauspieler: Daniel Bayer, Karsten Spitzer.

> Joe Bauer, Stadtflaneur, ergänzt den historischen Stoff um eine aktuelle Betrachtung des umliegenden Geländes.

> Karsten Michael Drohsel gründet das Joseph-Süß-Oppenheimer-Archiv Stuttgart - Präsentation minimalinvasiver Eingriffe.

Idee und Organisation: Stephan Köperl, Harry Walter, Sylvia Winkler

DER WEG ZU DEN WASCHKÜCHEN

Zugang zum Waschküchengelände über Mönchstraße, Einmündung Friedhofstraße in Stuttgart-Nord. Stadtbahnhaltestellen, Linie 12: Pragfriedhof oder Milchhof.

WEBSEITE GALGENBUCKEL



FLANEURSALON IM THEATERHAUS

Flaneursalon am 13. Oktober im THEATERHAUS. 07 11 / 4020 720.

Mit Uta Köbernick. Zam Helga & Ella Estrella Tischa. Toba Borke & Pheel. Roland Baisch & Sam Baisch. Unsereins macht auch mit.



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Die aktuelle StN-Kolumne:



KLEINE REISE

Neulich habe ich mir das neue Buch von Hanns-Josef Ortheil gekauft, es heißt „Die Berlinreise“, der Schriftsteller hat es als Zwölfjähriger geschrieben und jetzt als „Roman eines Nachgeborenen“ veröffentlicht. Das Buch ist inzwischen ein Bestseller, es schildert, wie der Junge 1964 in Begleitung seines Vaters die geteilte Stadt erlebt und in die Vergangenheit der Familie eintaucht.

Ich kenne Herrn Ortheil, 1951 in Köln geboren, nur aus dem Fernsehen; ein paarmal bin ich sonntagmorgens an ihm vorbeigejoggt, als er auf dem Blauen Weg in Heslach spazieren ging. Er lebt in Stuttgart, und als unbekannter Waldläufer kann ich ihn nicht einfach auf dem Blauen Weg anrempeln und sagen: Guten Morgen, sind Sie Herr Ortheil, der berühmte Schriftsteller aus Stuttgart, von dem womöglich viele nicht wissen, dass er aus Stuttgart ist?

Das Buch habe ich noch nicht zu Ende gelesen. Im Vorwort schreibt der Autor, den Text habe damals nur sein Vater korrigiert. Daraus schließe ich, dass Herr Ortheil eine Art Genie ist. Er hat (man erfährt es im Buch) ein enges Verhältnis zur Musik, er ist Pianist – und für mich jetzt einer der Menschen, die schon als Kind eine Sinfonie schreiben können. Ob mit Noten oder Buchstaben, erscheint mir nicht wichtig. Was zählt, ist der Sound.

Dieses Bild male ich mir aus, ohne ein Literaturlexikon oder das Internet bemüht zu haben. Ein wenig habe ich von der Biografie des Mannes gehört, beispielsweise, dass er als Kind lange nicht gesprochen hat. Man muss nicht viel wissen, um Gefallen an etwas zu finden. Oft kaufe ich mir eine ­Platte ohne die geringste Ahnung von der Geschichte der Musiker. Erst wenn ich die Platte gehört habe, erkundige ich mich, mit wem ich es zu tun habe. Das finde ich reizvoller als umgekehrt. Recherche ist nicht die Voraussetzung für den Herumgeher, ein Gefühl für etwas zu entwickeln.

Im Buch steht nicht, dass Herr Ortheil in Stuttgart wohnt. Wozu auch. Das erfährt man auf dem Blauen Weg, wo der Schriftsteller, habe ich gehört, ein Gartenhaus besitzt. Dem Blauen Weg, dieser schönen Fußreise-Route, hat er, das hat sich im kleinen Stuttgart bis zu mir herumgesprochen, mit dem Titel seines Tagebuchs ein literarisches Denkmal gesetzt.

Meine Art von Berichterstattung ist heute nicht das, was man gründlich nennt. Sie ist ein eher vager Hinweis auf die „Berlinreise“. Mit Absicht. Jeder hat das Recht, beim Lesen auf seine Art mit seiner Fantasie herumzureisen.

Als ich das Buch bezahlte, lag neben der Kasse von Wittwer ein Tintenstift mit der Aufschrift: „Schreiben ist leicht. Man muss die falschen Wörter weglassen.“ Der Satz ist von Mark Twain, und seitdem ich den Stift in der Hosentasche habe, weiß ich, dass ich noch einmal (und schon wieder) von vorn anfangen muss. Ja, Mark Twain. Herr Ortheil als Zwölfjähriger ist kein Tom Sawyer und erst recht kein Huck Finn, aber er liest und zitiert Karl May, und er fährt mit der Eisenbahn. Das ist in meinen Augen ziemlich viel Amerika, wie das Berlin der Sechziger auch viel Amerika war, als ein US-Präsident ein Berliner war.

Die Berlin-Bilder auf den ersten Seiten des Buchs kommen mir sehr nahe und merkwürdig bekannt vor. Merkwürdig deshalb, weil ich selbst schon achtzehn war, als ich das erste Mal Berlin sah, 1972. Kaum angekommen, landete ich im Schlepptau eines viel älteren Kollegen am Stuttgarter Platz, wo ein paar Jahre zuvor die Kommune 1 der Apo­Rebellen zu Hause gewesen war. In den Bars am Stuttgarter Platz sah ich zum ersten Mal Leute, wie man ihnen heute bei der Stuttgarter Parade am Christopher Street Day begegnet. Bald darauf habe ich entschieden, mich fortan mit dem Stuttgarter Leonhardsviertel zu begnügen. Das ist okay, wenn es dir am Blauen Weg gefällt.

Wenn ich heute am Straßenrand dem Umzug beim Christopher Street Day zuschaue, halte ich hinterher die Klappe. Ich weiß wenig vom wahren Innenleben der Leute, die da mitmachen, so wenig wie vom Seelenleben des Schriftstellers Hanns­-Joseph Ortheil. Keine Ahnung, wer von ihnen wann warum entschieden hat, für sich und seine Sache zu sprechen. Ich bitte nur, beim nächsten Mal nicht wieder auf verschiedenen Parade-Wagen „Atemlos durch die Nacht“ als Endlosschleife abzuspielen. Dieser Lärmmüll ist ein Tiefschlag für jeden, der je ein paar Lungenzüge Nacht eingeatmet hat. Heute spürt schon ein Zwölfjähriger, dass dieser Sound voll scheiße ist, wenn man einen Rhythmus für eine Reise braucht.

Damit beende ich meinen Ausflug in der Hoffnung, ein paar falsche Wörter an die richtige Stelle gesetzt zu haben.



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