Bauers DepeschenSonntag, 02. November 2008, 244. DepescheBETR.: LEIBESÜBUNGEN, FORMEL 1 Die letzten Tage meines Urlaube bin ich morgens durch den Wald gelaufen. Dreimal hintereinander, das war Zufall, keine Absicht, ich wurde eben abgeholt. Der dritte Morgen auf Eddys Partisanenstrecke mit dem berüchtigten "Seufzerhügel" war anstrengend. Amen. Am Samstag nach der Joggerei war ich schwimmen /saunieren, und zwar zum erstenmal seit 15 Jahren im Mineralbad Leuze; meine Oase Bad Berg hat an Allerheiligen traditionell ab zwölf geschlossen. Im Leuze zu schwimmen und zu saunieren macht so viel Spaß, wie am ersten Tag des Sommerschlussverkaufs im Kaufhof eine Badehose zu kaufen. Gott erhalte das Bad Berg. Weil heute in Brasilien die Formel-1-Meisterschaft entschieden wird, gebe ich eine Geschichte zum Besten, die ich vor etwa acht, neun Jahren geschrieben habe. Hinter dem Hauptdarsteller Potter - heute kann ich es sagen - verbirgt sich in der Realität die Stuttgarter Altstadt-Legende Rolf Mühleisen, genannt "Eisen". Er ist inzwischen, nach harten Zuhälterkriegen, über 70 Jahre alt und hat sein Auskommen immer noch im Milieu: DER NUSSKNACKER Potter und die Formel 1 Am Sonntag um 4.30 Uhr, wenn die Nacht gelaufen scheint, werden sie im Partypalast des Grand Hotels die Stühle zurechtrücken. Kann sein, dass dann schon ein paar Gäste angeschnallt werden müssen, weil sie die Einführungsrunde aus der Spur geworfen hat. Ich weiß aber, dass Potter noch wach sein. Seine Augenpartien sehen aus, als hätte er seine Zigarretten zu oft an den Flammen eines Autoauspuffs angezündet. Auf der Großleinwand wird das Rennen übertragen werden. Die Mehrheit der Bevölkerung der Autorepublik Deutschland wird mit dem Ferrari-Piloten Michael Schumacher fiebern. Potter nicht. Potter sagt, Schumacher interessiere ihn einen Dreck. Seit der Kerl aus Kerpen Frau und Kind habe, fehle ihm der entscheidende Millimeter beim Druck aufs Gaspedal. Schumacher sei ein Geizkragen, und ein Geizkragen sei immer auch ein Feigling. Potter wird heute Nacht Wetten darauf abschließen, dass Schumacher das Rennen nicht gewinnen und auch nicht Formel-1-Weltmeister werden wird. Potter lebt vom Wetten. Er wird nicht viel setzen, jedenfalls nicht auf einen Streich. Er wird den Schumacher-Fans die Kohle in kleinen Scheinen aus der Tasche ziehen, und sie werden nicht merken, dass sie es mit einem Profi zu tun haben. Sie können nicht wissen, dass man Potter auch Jack-Potter nennt. Er lebt in den Kreisen, in denen man einen Tausender einen Großen nennt, einen Hunderter, ein Kilo; und einen Fünfer, einen Heiermann. Potter versteht etwas von Rennen. Als er jung war, ist er selbst Rennen gefahren. Um seine Kisten zu finanzieren, hat er gelegentlich einen Bruch und ein paar Jahre Knast riskiert. Er hat nie gearbeitet. Meist haben Mädchen für ihn gearbeitet. Potter hatte keine Zeit zum Arbeiten. Potter musste wetten. Früher hat er die Rennstiefel von Jochen Rindt besessen, sie waren signiert. An guten Tagen ist Potter, der gute Beziehungen hatte, in diesen Schuhen auf den Pisten der Nacht herumgeirrt, stolz und traurig zugleich. Jochen Rindt hatte in der Grand-Prix-Saison 1970 so viele großartige Rennen gefahren, dass ihn selbst der Tod nicht bremsen konnte. Beim Training zum Grand Prix von Italien in Monza hat Rindt sein Leben verloren. Am Ende der Saison war er längst begraben. Aber Weltmeister. Potter, der in den Wirtshäusern der Stadt zielgerichtet auf seinen eigenen Tod hinarbeitet, hat in den vergangenen Jahren immer richtig getippt und auch Schumachers klägliches Ende in der Saison 97 vorhergesagt. Schumacher genießt bei Potter keinerlei Sympathien. Er sagt, der deutsche Rennfahrer esse seine Kartoffeln samt Schale, damit er nichts wegwerfen müsse, was Geld gekostet habe. Die Formel 1, sagt Potter, bestehe nicht allein aus einem rot lackierten Ferrari. Er hat stattdessen die silbern lackierten Autos von Mercedes im Auge. Früher hat er ja noch die richtigen Silberpfeile fahren sehen. Damals, als er nicht vor dem Rennen, sondern erst nach dem Rennen in der Hotelbar Platz genommen hat, weil er die besten Ehrenkarten besaß und den Fahrern nach dem Rennen die Hand schütteln durfte. Es war die Zeit, als er ein Chef gewesen ist. Damals saß Potter auch regelmäßig am Boxring. Als er später mit anschauen musste, wie die deutschen Boxer Henry Maske und Axel Schulz rundenlang die Fäuste vors Gesicht hielten, ohne zuzuschlagen, hat er weggesehen. Jetzt interessieren ihn nur noch Autos. Es ist ihm nicht mal wichtig, ob in den Autos von Mercedes ein deutscher Fahrer sitzt, obwohl er eine milieubedingte Ausländermacke hat. Hauptsache, der Fahrer hat keinen Schiss. Wer keinen Schiss hat, pfeift auch auf den Elchtest. Der Gefahr, sagt Potter, weicht man nicht aus. Eines Tages hat sich Potter für den kanadischen Rennfahrer Jacques Villeneuve entschieden. Der fährt zwar nicht Mercedes, hat aber eine schnelle Zunge und keinen Respekt. Er hat sich einst mit Bernie Ecclestone angelegt und dem Paten der Formel 1 seine Meinung gesagt. Seitdem hat Potter vor Villeneuve Respekt. Außerdem erinnern ihn Villeneuves Frisur und Klamotten an die Zeit, als Potter Tolle, Lederjacke und Jochen Rindts Original-Schuhe getragen hat. Als Villeneuve mal von einem Reporter gefragt wurde, was er mache, wenn er während des Rennens zwingend pinkeln müsse, gab er eine präzise Antwort: „Dann mache ich in die Hose.“ Schumacher, sagt Potter, trägt Windeln. Potter hat Recht. Wenn das Rennen von Melbourne gelaufen ist, werden die Hotelkellner Potter das Frühstück im Eimer servieren. Champagner und Eis. Er wird seinen Tischnachbarn erklären, warum Schumacher kein Sieger ist: Schumacher, hör' mal, sieht aus wie ein Nussknacker. Dann wird sich Potter eine Marlboro anzünden und sagen, dass er das bevorstehende Verbot von Tabakwerbung auf Rennwagen für Bullshit hält. Jochen Rindt sei schließlich nicht an Lungenkrebs gestorben. - Joe Bauers Flaneursalon präsentiert Die Kleine Stadtrevue: Dienstag, 25. November, 20.30 Uhr, Lokalität Rosenau - mit Los Gigantes, Michael Gaedt & Anja Binder, Roland Baisch und Dacia Bridges & Alex Scholpp. Es gibt noch Karten: 0711 / 661 90 90 „Kontakt“ |
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