Bauers DepeschenSonntag, 10. November 2019, 2146. DepescheSO LÄUFT DER FLANEURSALON IM THEATERHAUS Ziemlich illustres Personal bevölkert unsere Flaneursalon-Bühne am Mo, 25. Nov (19.30 Uhr), im Theaterhaus: Der Autor und Musiker Vincent Klink wird von dem Jazz-Pianisten Patrick Bebelaar begleitet. Der Rapper Toba und der Beatboxer Pheel werden von Toni Farris, dem Keyboarder der Reggae-Band Gentleman am Flügel unterstützt, und die Sängerin Eva Leticia Padilla tritt mit dem Gitarristen Stefan Brixel und dem kubanischen Kollegen Dany auf. Der Satiriker Oliver Maria Schmitt bringt sein geballtes Ich samt einem ungewöhnlichen Hirn mit, nur unsereiner muss sich mit sich selbst begnügen. Es gibt noch Restkarten: VORVERKAUF TEL 0711/4020720 Einleitende Worte beim Gedenkabend am 9. November zur Pogromnacht in Cannstatt am Platz der zerstörten Synagoge: Guten Abend, meine Damen und Herren, aufrichtigen Dank an Sie alle, die heute Abend hier sind. Mir kommt es vor, als seien nur wenige Tage vergangen, seit wir hier zum letzten Mal waren, 2018, am 80. Jahrestag des Novemberpogroms. Und schon diese Art Zeitgefühl führt uns mitten hinein in die wichtigste Erkenntnis bei der Auseinandersetzung mit dem Faschismus: Es geht bei unserer Betrachtung der Vergangenheit nicht um den Akt einer „Erinnerungskultur“, die Geschichte als etwas Abgeschlossenes behandelt. Vielmehr muss uns die Geschichte permanent an unsere Gegenwart erinnern. Ich habe lange gebraucht, um den unmittelbaren Zusammenhang des Gestern und Heute zu verstehen. Laut William Faulkner gibt es eine Vergangenheit, „die nicht tot und begraben ist“. „In Wirklichkeit“, hat er gesagt, „ist sie nicht einmal vergangen.“ Im vergangenen Jahr stand hier Sylvia Gingold, deren Mutter und Vater im Widerstand gegen die Nazis kämpften. Die als antifaschistische Aktivistin vom Verfassungsschutz beobachtet wurde. Und nur wenige Monate später ermorden bei uns wieder Nazi-Terroristen bei Anschlägen Menschen. Nach wie vor gilt der Satz des großen Stuttgarter Aufklärungsjuristen Fritz Bauer: „Nichts gehört der Vergangenheit an, alles ist noch Gegenwart und kann wieder Zukunft werden.“ Fritz Bauer, der die Ausschwitz-Prozesse durchsetzte, hat man erst 2003, erst 35 Jahre nach seinem Tod, in Stuttgart einen Fußweg in der Nähe des Bopsers gewidmet. Dieser abgelegene Weg wurde später umbenannt und eine Fritz-Bauer-Straße in Sillenbuch eingerichtet. Damit sind wir bei der Erinnerungskultur, einem oft heuchlerischen Ritual, das die Vergangenheit nur als Vergangenes betrachtet. Wenn ich von Erinnerungsorten rede, geht es mir nicht um Gedenkorte als Stationen einer Art Heimatgeschichte. Der Begriff Heimat gefällt mir ohnehin nicht, weil er von den Reaktionären vereinnahmt wird und immer auch Ausgrenzung von Menschen bedeutet. Orte aber, die auf historische Ereignisse hinweisen, sind dann wichtig, wenn sie uns mit den Zusammenhängen von Vergangenheit und Gegenwart konfrontieren. Historiker und Pädagogen lehren uns, dass die unmittelbare Begegnung mit den Schauplätzen historischer Verbrechen vor allem bei jungen Menschen die Neugier weckt. Und ihr Interesse dafür, was vor ihnen war, wer die Täter der Verbrechen waren – und was das mit den heutigen Verhältnissen zu tun hat. Dies gehört zum Thema Bildung. Am Abend nach dem Abschlag von Halle unterhielt ich mich vor der Synagoge im Hospitalviertel, die 1938 ebenfalls zerstört wurde, mit einem evangelischen Religionslehrer. Er erzählte mir, dass immer mehr Eltern in Israel ihre Kinder nicht mehr als Austauschschüler nach Deutschland schicken, weil sie Angst vor antisemitischem Terror haben. Das ist unsere Gegenwart. Statt aber kriminelle Rechte mit aller Konsequenz zu verfolgen, relativieren Regierungspolitiker deren faschistische Zersetzungsstrategie mit strunzdummen Warnungen vor der Gefahr von links. Es fehlt überall an Bewusstsein. Schon letztes Jahr habe ich die unsägliche Gestaltung dieses Platzes hier bemängelt. Wir bekommen nur schwammige Hinweise auf diesen Schauplatz der Barbarei, an dem am 9. November 1938 mithilfe der Stuttgarter Feuerwehr die Cannstatter Synagoge zerstört wurde. So begann die brutale Verfolgung, Deportation und Ermordung jüdischer Menschen in Cannstatt, in ganz Stuttgart und überall im Land. Stuttgart hat eine jüdische und antisemitische Geschichte, die oft nicht einmal pflichtschuldig dargestellt wird. Am Nordbahnhof bei den alten Eisenbahner-Hochhäusern, wo heute Immobilienhaie den Menschen das Leben schwer machen, ist der Galgenbuckel. Dort wurde 1738 der jüdische Finanzrat Joseph Süß Oppenheimer nach einem antisemitischen Schauprozess hingerichtet – und seine Leiche sechs Jahre lang in einem Käfig ausgestellt. Bis 1998 sollte es dauern, bis Oppenheimer ein Platz gewidmet wurde – ich kann Ihnen nur raten, sich dieses scheußliche Asphalt-Denkmal unterhalb der Oberen Königstraße anzuschauen. Am Galgenbuckel wiederum hat man erst 2016 dank einer Künstler-Initiative eine kleine Schautafel zur Erinnerung an Joseph Süd Oppenheimer angebracht. An den Mann, dessen Biografie die Nazis später für ihren widerlichen Propagandafilm „Jud Süß“ missbrauchten. Und selbstverständlich reichen diese Kapitel in die Gegenwart hinein, wenn man weiß, dass heute im Landtag Gestalten wie der AfD-Politiker Gedeon sitzen, ein Abgeordneter, den man von Rechts wegen Antisemit nennen darf, so wie Höcke einen Faschisten. Die Erinnerungskultur hat versagt. Erst 1999 beispielsweise hat die Stadt Georg Elser eine abgelegene Staffel gewidmet, obwohl auch sein Leben und sein Handeln mitten nach Stuttgart hineinführen. Gestern jährte sich der Tag seines Hitler-Attentats, mit dem er den Krieg verhindern wollte, zum 80. Mal. Während sich viele in der Politik geweigert haben, die Geschichte so aufzuarbeiten, dass ihre Gefahren für die Gegenwart sichtbar werden, organisierten sich die Völkischen, die Rassisten, die Nazis mehr oder weniger ungestört. Zu ihnen gehören heute Juristen, Polizisten, Militärs, Journalisten, Intellektuelle. Und auch dieser symbolische Tag heute wird das öffentliche Bewusstsein nicht verändern. Die Politik ist vorwiegend damit beschäftigt, die Geschichte der mit reichlich westdeutscher Propaganda manipulierten Wiedervereinigung vor 30 Jahren zurechtzubiegen. Das antifaschistische Engagement aber ist etwas anderes als das Alibi-Getue bei Gedenktagen und Mahnwachen. Wir müssen täglich etwas tun, und zum Glück gibt es Menschen, die im Wissen um die Vergangenheit sehr gegenwärtig und solidarisch handeln. Mit unterschiedlichen Strategien. Und heute Abend noch werden wir erleben, dass trotz aller Bedrohungen der Humor und der Spaß am politischen Tun NICHT auf der Strecke bleiben dürfen. Freuen wir uns auf den Auftritt von Esther Bejarano und der Microphone Mafia nachher im Cannstatter Rathaus. (Joe Bauer) |
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