Bauers Depeschen


Samstag, 26. Oktober 2019, 2141. Depesche



 



Hört die Signale!

Ein Lied zum Tag



Neue StN-Kolumne: Wie der Schlaf verpennt und instrumentalisiert wird.

ERWACHET!

Es geht mir nicht um ein Wortspiel, wenn ich sage: Mein Leben lang habe ich das Thema „Schlafen“ verschlafen. Jetzt hat mich die Kulturwissenschaftlerin Karoline Walter geweckt. Sie kommt aus Stuttgart und hat vermutlich, wie ich dank ihres gerade erschienenen Buchs „Guten Abend, gute Nacht“ gelernt habe, wie die meisten Menschen das Licht der Welt erst nach Einbruch der Dunkelheit erblickt. Heute lebt sie als Publizistin in Berlin.

Ihr vor Kurzem im Hirzel Verlag erschienenes Buch trägt den Untertitel „Eine kleine Kulturgeschichte des Schlafs“ und ist ein tiefer, vergnüglich-verstörender Blick in das Dunkel keineswegs immer traumhafter Träume. Vielleicht kein Zufall, dass gleichzeitig mit meinem Aufbruch als Wandler auf Schlafes Spuren im Württembergischen Kunstverein die Ausstellung „Schlafen mit Nachdruck, von einem Leben träumen“ eröffnet wurde. Stuttgart gehört fraglos zu den neoliberalen Hochburgen, wo trotz gut verbreiteter Verschlafenheit der Schläfer als Faulenzer gilt: als Zeitverschwender.

Die aufklärerische Lektüre des Buchs, die Bilder und Zitate der politisch hochaktuellen Ausstellung vor Augen, schüttle ich den Kopf bei dem Gedanken, dass ich mich nie zuvor ernsthaft mit der Materie beschäftigt habe. Wie kann ein Mensch, der gut ein Drittel seines Lebens im Nirwana verdöst, diesen Zustand der mysteriösen Abwesenheit einfach ausblenden? In Zeiten, als mir die Nacht weit aufregender erschien als der Tag, begegnete ich der Problematik mit einem Kinospruch: „Ich schlafe, wenn ich tot bin. Da habe ich Zeit dazu.“ Eine ähnliche Verdrängung wie die des „großen Schlafs“, Raymond Chandlers Metapher für den Tod.

Das Sprichwort „Wie man sich bettet, so liegt man“ erhält für mich bei der Lektüre von Karoline Walters Buch völlig neue Bedeutung: Die historische Aufarbeitung des Schlafs macht deutlich, dass du immer so liegst, wie du gebettet wirst – oder schlimmer: wie du dich betten lässt.

Die Art deines Schlafs hat einen gesellschaftspolitischen Hintergrund. Im Vorwort des Buchs ist zu lesen, wie sich die Beurteilung des Schlafs in der westlichen Welt von der „Sünde“ im Mittelalter über die „Last“ in der Aufklärungszeit zum „produktionshemmenden Faktor“ im Industriezeitalter wandelte. Das heißt: Die Notwendigkeit, sich auszupennen, wird von den Herrschenden instrumentalisiert. Da erscheint mir „Die Internationale“ als Kampflied der arbeitenden Klasse auf einmal wie bittere Ironie: Ausgerechnet die Ausgebeuteten, die kaum Zeit zum erholsamen Schlafen finden, besingen die Solidarität mit der Zeile „Wacht auf, Verdammte dieser Erde …“

Unsereiner hat sich dank des Buchs mit Freude in die Räume des Schlafs versenkt. Sich stets bewusst, dass er diesem Stoff zuvor weniger Beachtung schenkte als Verdauungsproblemen, die einen Bestseller namens „Darm mit Charme“ hervorgebracht haben. Karoline Walter zu unterstellen, eine 1984 in Stuttgart Geborene müsse irgendwann zwangsläufig das Feld menschlicher Verschnarchtheit beleuchten, wäre bösartig. Nach dem Studium ist sie in einer Schreibgruppe auf das Thema gestoßen und hat bei jahrelangen Recherchen festgestellt, dass sehr wenig wissenschaftlich fundierte und gleichzeitig leicht verständliche Arbeiten darüber gibt.

Womöglich aber, sagt mir die Autorin, habe der Stoff in der Luft gelegen. Wer weiß. Dass Ikea neulich Litfaßsäulen mit dem Slogan „Work-Life-Sleep-Balance“ dekorierte, um mit Schlaf-Tipps für sein Mobiliar zu werben, hätte ich bis vor Kurzem kaum als Zeitgeist-Marketing wahrgenommen. Da half mir diese 214 Seiten starke Aufklärung ganz erheblich. Ohne das Buch hätte mich auch nicht interessiert, was der reaktionäre Abgeordnete Jacob Rees-Mogg demonstrieren wollte, als er sich unlängst im britischen Parlament zu einem Nickerchen hinstreckte. So aber machte ich mich schlau, um welche widerliche Geste der Verachtung es sich handelte: Ein millionenschwerer Mann aus der obersten Eliteetage zeigte mit Kolonialherrenarroganz, dass er Menschen jenseits seines fragwürdigen Standes als nicht existenten Pöbel betrachtet.

Der Schlaf sendet politische Signale, selbstverständlich auch subversive. Mit der Aktionsform des „Sleep In“ protestierten schon vor Jahrzehnten Menschen gegen Obdachlosigkeit und für das Recht auf Schlafen im öffentlichen Raum. Heute ist dieses Thema wieder so präsent wie lange nicht. Nicht ganz in diese Reihe, fällt mir ein, passt da vielleicht Yoko Onos und John Lennons „Bed In“-Performance für den Frieden, weil das Künstlerpaar das Bett ja in sehr wachem Zustand hütete. Doch auch dieses Happening von 1969 gegen den Krieg hatte die Friedensutopie des wahren Schlafs im Sinn. Denn das „Schlafmanagement“ der Herrschenden, heißt es in dem Buch, ist nirgendwo „bedeutender als im Kriegseinsatz“. So erfahren wir, wie die Nazis ihre Soldaten mit Aufputschdrogen in die Wachheit katapultierten und damit in den Tod.

Bis heute wird von allen denkbaren Profiteuren menschlicher Arbeit an Kontrollmechanismen für den Schlaf gearbeitet. Man ruft Schlummer-Trends aus wie das „Powernapping“, die Schnellschuss-Erholung zur Steigerung der Produktivität am Arbeitsplatz.

Zum Glück jedoch gilt nach wie vor auch ein Zitat aus der Ausstellung des Kunstvereins: „Der Schlaf ist kein Feind der Revolution, sondern bedingt diese zwingend, denn in sich birgt er die Möglichkeit zum Erwachen, zur Wiedererweckung, zum Neubeginn.“

Von nun an glaube ich an den aufrechten Schlaf im Liegen. Gute Nacht allerseits, bis zum Morgenrot.





 

Auswahl


Depeschen 2311 - 2318

Depeschen 2281 - 2310

Depeschen 2251 - 2280

Depeschen 2221 - 2250

Depeschen 2191 - 2220

Depeschen 2161 - 2190

Depeschen 2131 - 2160
17.12.2019

15.12.2019

13.12.2019
10.12.2019

06.12.2019

30.11.2019
26.11.2019

23.11.2019

22.11.2019
19.11.2019

17.11.2019

15.11.2019
14.11.2019

12.11.2019

10.11.2019
09.11.2019

08.11.2019

02.11.2019
28.10.2019

26.10.2019

19.10.2019
14.10.2019

11.10.2019

10.10.2019
08.10.2019

05.10.2019

21.09.2019
20.09.2019

17.09.2019


Depeschen 2101 - 2130

Depeschen 2071 - 2100

Depeschen 2041 - 2070

Depeschen 2011 - 2040

Depeschen 1981 - 2010

Depeschen 1951 - 1980

Depeschen 1921 - 1950

Depeschen 1891 - 1920

Depeschen 1861 - 1890

Depeschen 1831 - 1860

Depeschen 1801 - 1830

Depeschen 1771 - 1800

Depeschen 1741 - 1770

Depeschen 1711 - 1740

Depeschen 1681 - 1710

Depeschen 1651 - 1680

Depeschen 1621 - 1650

Depeschen 1591 - 1620

Depeschen 1561 - 1590

Depeschen 1531 - 1560

Depeschen 1501 - 1530

Depeschen 1471 - 1500

Depeschen 1441 - 1470

Depeschen 1411 - 1440

Depeschen 1381 - 1410

Depeschen 1351 - 1380

Depeschen 1321 - 1350

Depeschen 1291 - 1320

Depeschen 1261 - 1290

Depeschen 1231 - 1260

Depeschen 1201 - 1230

Depeschen 1171 - 1200

Depeschen 1141 - 1170

Depeschen 1111 - 1140

Depeschen 1081 - 1110

Depeschen 1051 - 1080

Depeschen 1021 - 1050

Depeschen 991 - 1020

Depeschen 961 - 990

Depeschen 931 - 960

Depeschen 901 - 930

Depeschen 871 - 900

Depeschen 841 - 870

Depeschen 811 - 840

Depeschen 781 - 810

Depeschen 751 - 780

Depeschen 721 - 750

Depeschen 691 - 720

Depeschen 661 - 690

Depeschen 631 - 660

Depeschen 601 - 630

Depeschen 571 - 600

Depeschen 541 - 570

Depeschen 511 - 540

Depeschen 481 - 510

Depeschen 451 - 480

Depeschen 421 - 450

Depeschen 391 - 420

Depeschen 361 - 390

Depeschen 331 - 360

Depeschen 301 - 330

Depeschen 271 - 300

Depeschen 241 - 270

Depeschen 211 - 240

Depeschen 181 - 210

Depeschen 151 - 180

Depeschen 121 - 150

Depeschen 91 - 120

Depeschen 61 - 90

Depeschen 31 - 60

Depeschen 1 - 30




© 2007-2024 AD1 media ·