Bauers DepeschenSamstag, 09. November 2019, 2145. DepescheFÜR DEN FLANEURSALON am Montag, 25. November, im Theaterhaus gibt es noch Restkarten: VORVERKAUF - Telefonisch: 0711/4020720 ENDE EINER KOLUMNE. Die StN haben heute, zum 81. Jahrestags des Novemberpogroms, noch einmal diesen - von mir überarbeiteten - Text aus dem Jahr 2017 in meiner Kolumne "Joe Bauer in der Stadt" abgedruckt. Diese Kolumne wird es schon demnächst nicht mehr geben, weil ich meine Arbeit für die StN beenden werde. Weiterhin werde ich Beiträge für meine Depeschen-Seite schreiben. KOSCHER Wieder mal hilft mir der Zufall als Fremdenführer in der eigenen Stadt. Weil ich für einen spontanen Ausflug eine Fahrkarte brauche, gehe ich zum Bahnhof. Hätte ich mir das Ticket wie üblich online mit dem Taschentelefon besorgt, würde mir etwas entgehen: Lange beobachte ich an diesem Tag, wie die Leute in der Bahnhofshalle achtlos über den Ruhmesstern für Carl Laemmle eilen. Januar 2017. Nach dem Vorbild von Hollywoods Walk of Fame hat man dem legendären Filmproduzenten bei uns ein Zeichen gesetzt: Neben dem Fünfzack mit seinem Namen wirbt ein Plakat für eine Ausstellung im Haus der Geschichte: „Carl Laemmle presents – Ein jüdischer Schwabe erfindet Hollywood“. Carl Laemmle (ursprünglich Karl Lämmle) wird 1867 im oberschwäbischen Laupheim geboren. Als Siebzehnjähriger wandert er in die USA aus. 1912 gründet er in Los Angeles die Universal Studios und steigt zu einem der großen Pioniere des Hollywood-Films auf. Seinem Geburtsort blieb er zeitlebens verbunden, auch mit großzügigen Spenden, und in der Nazi-Diktatur setzte er sich für die Jüdinnen und Juden seiner Heimat ein und bewahrte viele vor der Ermordung. Es war kurz vor den Holocaust-Gedenkfeiern am 27. Januar, dem Befreiungstag von Auschwitz, als ich an Carl Laemmles Stern im Bahnhof stand und mir Gedanken machte über Vergangenheit und Gegenwart. Erfahrungsgemäß werden uns – und vor allem jungen Menschen – die Ausmaße des Nazi-Terrors erst durch die Konfrontation mit den heute noch sichtbaren Tatorten bewusst. Die Verbrechen tauchen wie Bilder eines Films vor uns auf, wenn wir die Schauplätze sehen, die Häuser, die Fenster, hinten denen Menschen lebten, bis die Nazis kamen. Die Stolpersteine auf den Gehwegen vor den ehemaligen Wohnungen ermordeter Juden machen die Geschichte intensiver erfahrbar als Politikerreden. Und es sind die gegenwärtigen Orte des Grauens, die eine emotionale Nähe zum Unfassbaren herstellen – und den Blick auf die Machenschaften der Völkischen und Nazis von heute öffnen und schärfen. Wir erleben dies am Stuttgarter Nordbahnhof, am Galgenbuckel vor den Waschküchen der alten Eisenbahner-Hochhäuser, wo der jüdische Finanzrat Joseph Süß Oppenheimer 1738 nach einem antisemitischen Schauprozess 1738 hingerichtet und seine Leiche sechs Jahre lang in einem Käfig ausgestellt wurde. Erst seit 2016 – nach mehreren Künstleraktionen – erinnert eine kleine Schautafel an einer der Waschküchen an Oppenheimer. Die Nazis verfälschten und missbrauchten seine Geschichte später für ihren widerlichen Propagandafilm „Jud Süß“. (Ich kann nur raten, heute den Joseph-Süß-Oppenheimer-Platz unterhalb der oberen Königstraße zu besuchen: Hier wird deutlich, was in einer Stadt geschieht, die dem Immobilienwahn verfallen ist.) Nur wenige hundert Meter vom Galgenbuckel im Nordbahnhof-Viertel entfernt, befindet sich seit 2006 die Gedenkstätte „Zeichen der Erinnerung“ an dem Ort, wo mehr als 2600 Juden, Roma und Sinti mit Güterzügen der Reichsbahn in die Vernichtungslager der Nazis deportiert wurden. Auch diese Erinnerungsstätte ist bürgerlichem Einsatz zu verdanken, vor allem dem Architekten Roland Ostertag, Bei diesem Blick auf die Vergangenheit, die bedrohlich in unsere Gegenwart hineinwirkt, ist es bezeichnend, dass die einstige Stuttgarter Gestapo-Zentrale, das Hotel Silber am Charlottenplatz, trotz des unermüdlichen Bürgerengagements erst Ende 2018 als Gedenk- und Lernort eröffnet wurde. Zu einem Zeitpunkt, als schon wieder neue Rassisten, Völkische und Nazis in unseren Parlamenten saßen, stark vertreten auch im Landtag vor unserer Haustür Das Hotel Silber, in dem Menschen von deutschen Polizisten gefoltert und ermordet und Angehörige des Hitler-Attentäters Georg Elser verhört wurden, steht in der Nachbarschaft des Unternehmens Breuninger. Dessen einstiger Chef Alfred Breuninger saß als Nazi-Funktionär im Stuttgarter Rathaus und profitierte finanziell vom Hitler-Regime. In seinem „arisierten“ Haus beschäftigte er Zwangsarbeiter und ließ Wehrmachtsuniformen produzieren. Stadt- und Landespolitiker, die heute Gedenkreden halten, waren allerdings nicht bereit, der Auseinandersetzung mit dem Faschismus von gestern und heute das komplette Gebäude zu widmen. Ein Stockwerk des Hotels Silber, einst Zentrum der Gestapo-Verbrechen, wurde vermietet: Das neue Breuninger-Projekt brauchte Büros. Währen der Laemmle-Ausstellung ging ich mit Freunden in das Restaurant Teamim in der Synagoge im Hospitalviertel. Für den Besuch im Restaurant muss man sich anmelden, Sicherheitsleute prüft bei der Ankunft in der Synagoge die Personalausweise. Im Lokal selbst herrscht wohltuende Gastfreundschaft. Die Brüder Aurel und Richard Jäger bereiten koscheres Essen zu. Die Zutaten kommen aus Frankreich und Israel. Wir essen Gemüsesuppe und Couscous. Die heutige Synagoge wurde am 13. Mai 1952 eingeweiht. Auch die erste Stuttgarter Synagoge, 1861 eröffnet, stand an der Hospitalstraße. Beim Novemberpogrom 1938 brannte der Nazi-Mob unter dem Gejohle zahlreicher Schaulustiger aus der Stadt das Haus nieder. Es wurde vollkommen zerstört, wie auch die Synagoge in Cannstatt, die nicht mehr aufgebaut wurde. Heute erinnert an das jüdische Gotteshaus an der König-Karl-Straße ehe peinliche Gedenkstätte mit unverständlich gestalteten Symbolen (verkehrsschildern) neben einem Parkplatz. Die antisemitischen Täter werden dort nicht benannt, Begriffe wie „Nazis“ oder „NSDAP“ sucht man vergebens. Auf einem Gedenkstein liest man stattdessen Phrasen über die „Zeit einer gottlosen Gewaltherrschaft“. Nach Kriegsende lebten von einst 5000 jüdischen Mitbürgern nur noch 24 in Stuttgart. Aufgrund glücklicher Zufällen wurden sie nicht deportiert oder konnten in Verstecken überleben. Schon bald aber, bis zum Sommer 1946, kamen unerwartet viele Flüchtlinge nach Stuttgart: Die US-Besatzungszone wurde zentrale Aufnahmestelle für Juden aus Osteuropa, vor allem aus Polen. Die Amerikaner führten sie als „Displaced Persons“, als Menschen ohne Zuhause. Von 1946 bis 1948 werden in der Reinsburgstraße im Westen der Stadt zwei jüdische Zentren mit Beträumen eingerichtet, provisorische Synagogen. Am 29. März 1946 stürmen mehr als 200 Stuttgarter Schutzpolizisten und Kriminalbeamte das Camp im Westen der Stadt, sie suchen Schwarzmarktwaren. Während der Razzia beginnen deutsche Polizisten zu schießen. Der polnische Jude Samuel Danziger geht zu Boden. Er hat Auschwitz überlebt und wie durch ein Wunder einen Tag vor der Polizeiaktion seine Frau und seine zwei Töchter in der Reinsburgstraße wiedergefunden. Als die Amerikaner die Razzia abbrechen, ist es zu spät. Der Schuss aus einer deutschen Polizeiwaffe hat Samuel Danziger in den Kopf getroffen. Er ist tot. Der Schuldige wird nie ermittelt, der Vorfall in der Stuttgarter Geschichtsschreibung jahrzehntelang verschwiegen. „Nichts gehört der Vergangenheit an“, hat der große Stuttgarter Jurist und antifaschistische Aufklärer Fritz Bauer gesagt, „alles ist noch Gegenwart und kann wieder Zukunft werden.“ AN DIESEM SAMSTAG findet die Aktion zum Gedenken an den Novemberpogrom am Platz der zerstörten Cannstatter Synagoge statt: König-Karlstraße 45-47. Beginn 18 Uhr. (Unsereiner hält eine einleitende Rede und moderiert.) Die Veranstaltung danach mit Esther Bejarano im Cannstatter Rathaus ist ausgebucht - ein Besuch ohne bereits erfolgte Reservierung nicht mehr möglich. |
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