Bauers Depeschen


Samstag, 27. Januar 2018, 1909. Depesche

 

STUTTGART 21

Der Architekt Roland Ostertag hat 2014 die sogenannten bahnverkehrlichen Kosten von Stuttgart 21 bei einer Fertigstellung im Jahr 2022 auf mindestens 11,77 Milliarden Euro berechnet - bei einer Fertigstellung 2025 auf mindestens 15,55 Milliarden Euro. Ich würde keine 5 Euro dagegen wetten. Aber das interessiert fast niemanden mehr, weil die meisten denken, es gehe um etwas Luftgeld, ein paar Rechenfehler und menschliches Unvermögen. Und nicht etwa um eine verbrecherische Profitpolitik.



WAS TUN: TREFFEN

GEGEN DEN RECHTSRUCK

Die Rechtsnationalen und Völkischen sitzen nicht nur im Bundestag. Im Stuttgarter Landtag ist die AfD drittstärkste Fraktion. Die Schere zwischen Arm und Reich geht weiter auseinander. Immer mehr Normalverdiener können die Mieten in der Stadt nicht mehr bezahlen. Die Rechten werden immer stärker. Wir müssen was tun. Das Aktionsbündnis Stuttgart gegen Rechts und unsereins haben zusammen ein offenes Treffen zum besseren Kennenlernen und Vernetzen organisiert: für alle, die etwas tun wollen - aber nicht wissen, wie und mit wem. Erst mal keine große Sache. Ein Zeichen. Information, Diskussion. Das Ganze findet statt am Samstag, 10. Februar, im Württembergischen Kunstverein. 14 UHR BIS 17 UHR. Für Anmeldungen zur besseren Vorbereitung sind wir dankbar:

stuttgart-gegen-rechts@freenet.de.

Hier der Klick zum Einladungsbrief: GEGEN RECHTS





Hört die Signale!

MUSIK ZUM TAG



Die aktuelle StN-Kolumne:

WENN BEEFY ERZÄHLT

Angesichts der fröhlichen Stimmung an der Stuttgart-21-Front halte ich es für wahrscheinlich, dass ich auf einem E-Bike zum Mond reite, noch ehe die erste Lokomotive in das neue Bahnhofsloch des Kessels rollt. Das heißt allerdings nicht, ich würde unsere schöne neue Welt im Dunstkreis dieses Jahrtausendwerks ignorieren.

Mich fasziniert der Blick auf unseren Fortschritt, ich spaziere in die Zukunft. Neulich war ich mit meinem Männerverein, einem vierköpfigen Bataillon zur Erkundung heimischer Mittagsküche, im Hotel Jaz in the City. Dieses Etablissement belegt sechs der 18 Stockwerke im Hochhaus Cloud No. Seven in der Wolframstraße. Dass der Name Cloud Number Seven nichts mit der deutschen Wolke sieben zu tun hat, habe ich früher schon mal erwähnt. Wenn unsere englischsprachigen Zeitgenossen betört und erotisiert abheben, schweben sie nicht wie wir Krauts auf Cloud Number Seven, sondern auf Cloud Number Nine.

Die letzte berühmte Nummer neun bei uns in der Stadt verbirgt sich im Beinamen des Mineralbads Berg, wo zurzeit fast so wild und mit reichlich Terminverzögerung gebuddelt wird wie auf dem Minengelände S 21. Die volkstümliche Bezeichnung Neuner für die traditionsreiche Badeanstalt hat allerdings nichts mit der Ziffer neun zu tun. Sie verweist auf den Nach­namen des Hofgärtners, der das Gelände angelegt hat. Ähnlich berühmt wie das Bad Berg als echter Stuttgarter Neuner war nur Jürgen Klinsmann.

Wir schweben ein in Wolke sieben, um im neuen Hotel Jaz unser Mittagsmahl zu nehmen. Die komplette Herberge wurde in Begriffe aus der Popularmusik eingebettet: Es gibt Offbeat-Suiten und Bassline-Zimmer, außerdem treten leibhaftige ­Musiker und DJs auf. Das fürs Lunch (Mittagessen) zuständige Lokal, sehr groß und sehr cool, heißt Rhythms Bar + Kitchen.

Videobilder an der Rezeption klärten uns auf, dass das Hotel im schönen Europaviertel steht, für Business & Events zuständig ist – und Swabian cuisine with a twist kredenzt: schwäbische Küche mit Pfiff. Typisch für diesen Zungentanz sind Gerichte wie "Wurstsalat Benz Town" mit Lyoner, Sucuk, Kaseri und Harissa oder "Enten-Maultasche" mit Speck, Minzlinsen, Koriander und Granatapfeljus.

Ich bin kein Küchen-, Kitchen- oder Cuisine-Kritiker und hüte mich, mir irgendwelche Gourmeturteile anzumaßen, schon weil mir beim durchgekauten Wortschatz von Laienrezensenten schlecht wird: „Fluffig“, „kross“ und „lecker“ bringe ich im realen Leben nicht über die Lippen, und beim Tippen dieser Adjektive habe ich Angst, mir die Finger zu brechen.

Als ich im Restaurant Rhythms meinen Beef Burger mampfe, geht mir trotz der gedimmten Stimmung in der Tiefe des leeren Raumes ein Licht auf: Bis vor diesem Swabian-cuisine-with-a-twist-Event habe ich mich, ganz Bauer vom Land, ein Leben lang zum Mittagessen an x-beliebige Tische auf meine Hinterbacken gesetzt. Und deshalb nicht den Pfiff gehört. Jetzt endlich erfahre ich mithilfe der im Stil einer Plattenhülle gestalteten Hotelbroschüre, dass ich in meinem Leben alles versäumt habe, was ein Leben ausmacht.

Die Rhythms Bar + Kitchen, lese ich, ist „Stuttgart’s coolster Ort (für den Apostroph kann ich nix) zum Essen, Trinken und Beisammensein bei traditionell angehauchten & urbanen Gerichten und einzigartigen Musik- & Kunstperformances“. Dazu gesellen sich „entspannte Atmosphäre, herzlicher Service und gastronomisches Storytelling at its best“.

An dieser Stelle begreife ich: Mein Beef Burger mit Rindfleisch-Patty, Rotkraut, Spinat, Chili-Preiselbeeren, Gruyère-Käse und Brioche-Bun ist nicht einfach nur ein Rindfleischklops. In seinem Fall geht es, konzeptionell betrachtet, nicht um etwas Essbares aus der Küche – sondern, so steht’s geschrieben, um „gastronomisches Storytelling at its best“.

Ohne Storytelling vom Feinsten kann sich heute niemand mehr auf dem neoliberalen Markt behaupten. Ohne eine Erzählung aus dem Marketingbüro bist du ein Nichts – eine Wurst ohne Twist. Mein Burger wurde nicht zum Kauen und Verdauen gemacht, er kommt aus der Küche, um mir Geschichten zu erzählen. „Hey, Mann“, sagt der Beef Burger zu mir, „ich bin zwar nicht heiß und auch nicht richtig warm, und mein Hackfleisch ist verdammt roh und zu bloody. Ich schmecke auch nicht besonders geil. Aber im Zentrum deiner heutigen Jazz-in-the-City-Erfahrung steht nicht dein Bedürfnis, den Darm eines alten Mannes zu verwöhnen und dich zu sättigen wie eine Kuh. Ich, dein urbanes Fleisch, habe eine große Story für dich.“ – „Hey, Beefy, entspann dich“, sage ich etwas unhöflich, „du bist im Männer­verein nicht der Burger-King. Was interessiert mich ein kalter Klops wie du. Hauptsache, dein Laden hat Highspeed-Internet.“ – „Yeah“, sagt der Beef Burger, „Highspeed-Zugang auf allen Stockwerken.“

Selbstverständlich duze ich den Beef Burger, in jazy Gesellschaften ist das Pflicht. Da wird auch ein alter Sack wie ich wieder kross und fluffig. Dass das Restaurant Rhythms heißt, ist stimmig: Der Rhythmus des Hauses weicht in unserem Fall freejazzartig von allen Highspeed­Normen ab. Wären meine Männer und ich wie so viele in unserer schönen neuen Welt Sklaven rigoroser Arbeitsbedingungen, hätte uns die Dauer unseres Mittagsmahls den Job gekostet. Dafür aber, das muss gesagt sein, werden wir von den Damen und Herren des Personals ausgesprochen liebenswürdig betreut. Das ist Balsam für unsere Psyche, schon weil wir beim Blick aus dem Fenster nichts anderes sehen als die kalten Mauern des Einkaufszentrums Milaneo, das ich einst aus phonetischen Gründen in Müllaneo umgetauft habe.

Bei dieser Art Aussicht leidet unser Storytelling am Tisch. Wir werden maulfaul, verfallen in Depression. Ich starre durchs Fenster und sage, ziemlich traditionell angehaucht, zu meinem Beef Burger: „Schade, dass Beton nicht brennt.“ – „Ja“, sagt Beefy „ein heiße Flamme hätte heute auch meiner Seele gutgetan.“

Dann gehen wir hinaus in die alte Welt. In der Ferne klopfen die betagten Eisenbahnhochhäuser des Nordbahnhofviertels an die Himmelstür. Wir alten Rock ’n’ Roller, schwäbische Käuze with a twist, haben die Zukunft gesehen. Und mit George Harrison summen wir verzückt: „I’ll show you cloud nine …“



 

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