Bauers DepeschenDienstag, 09. Januar 2018, 1902. DepescheHört die Signale! MUSIK ZUM TAG TIPP Der Berliner Kabarettist ARNULF RATING gastiert mit seinem neuen Programm „Tornado“ an diesem Freitag im Stuttgarter Renitenztheater (20 Uhr). Es gibt noch Karten. Mein StN-Interview mit ihm findet man auf der Depeschenseite vom 8. Januar (Archiv). Die aktuelle StN-Kolumne: DER VORSATZHAMMER Heute ist der 9. Januar – und die Feiertagsfeier zu Ende. Fast könnte ich von einem Aufbruch ins neue Jahr sprechen, müsste ich nicht zügig in Deckung gehen: Schon jetzt droht eine tiefe Depression im mentalen Kampf gegen die humorloseste Zeit des Jahres, je nach Lachzwangsneurosenklinik Karneval, Fasching oder Fasnet genannt. Der Dauerlauf, auch als Joggen bekannt, ist eines meiner Mittel, die schlimmste Hirnflatulenz unter freiem Himmel abzubauen. Ich bin beileibe kein Suchtjogger, nur ein ehrgeizloser Sonntagsläufer, modemäßig eher an den Schlabberklamotten des alten Kinoboxers Rocky Balboa orientiert als an den Wurstpellenkostümen zeitgenössischer Stirnlampengeschwader. Vor einiger Zeit bin ich auf einer meiner Immer-der-Nase-nach-Routen von Westen nach Süden zufällig an den paar Ufermetern eines renaturierten, allerdings nicht originalgetreuen Bachs zwischen Heslach und Kaltental gelandet; dieses Rinnsal über dem unterirdischen Nesenbach speist sich aus Quellen der Umgebung. Weil ich seit meiner ersten Huckleberry-Finn-Lektüre einen Hang zu Flüssen habe, musste ich den Fuß- und Radweg am geklonten Nesenbach südlich des Südheimer Platzes inzwischen geradezu zwanghaft immer wieder aufs Neue aufsuchen. Es gibt in diesem Revier auch einen – sogar beleuchteten – Nesenbachweg. Was tröstlich ist, weil etliche unserer Bachel den Namen des Flüsschens nur noch wegen eines nach ihm benannten Lokals in den neuen Breuninger-Bauten über dem Nesenbach kennen. Das Gewässer wurde von der Stuttgarter Politik mit geradezu faschingsüblicher Charakterlosigkeit missbraucht. Dennoch lässt meine Route am Waldrand etwas von der der früheren Naturschönheit des weitgehend überdolten Nesenbachs ahnen und nährt im Vorbeilaufen auch meine Illusion, in mir selbst sei noch etwas im Fluss, bevor alles den Bach runtergeht. Der Nesenbach, Stuttgarts Vater Unrein mit seinem Ursprung in den heute zugebauten Vaihinger Honigwiesen, ist nicht gerade berühmt. Vermutlich ist sogar der Neckar bekannter. Als „Spiegel online“ neulich über das Stuttgart-21-Desaster mit der neuerlichen Kosten- und Terminexplosion berichtete, war in der ursprünglichen Fassung von Schwierigkeiten mit einem „Nestelbachkanal“ die Rede. Ich danke dem Autor für diesen kleinen Fehler, klingt Nestelbach doch wesentlich poetischer als Nesenbach, ein Name, der uns nicht von ungefähr an Nasenbach erinnert: an unliebsamen Rotz. Als ich am Dreikönigstag mit Blick auf das Feuchtgebiet und die Staugruben zwischen Heslach und Kaltental entlangtrabte, erwog ich kurz, später die öffentliche Baulochbesichtigung von Stuttgart 21 zu besuchen. Mir war dann aber nicht danach, mich an der Bahnhofsruine über dem Nestelbachkanal als Katastrophengaffer einzureihen. In dieser Sache habe ich Elend genug gesehen. Deshalb habe ich versucht, mich von der nicht besonders spannenden Übung des Dauerlaufens mit Gedanken über die wichtigsten Vorsätze für das neue Jahr zu entspannen. Mein erster Vorsatz für 2018 lautet, auf keinen Fall je wieder am Jahresende einen Vorsatz zu fassen. Natürlich bin ich darauf nicht von allein gekommen. Vielmehr habe ich die Silvestersätze des italienischen Philosophen Antonio Gramsci aufgeschnappt: Er hasse „die Jahreswechsel, die aus dem Leben und dem menschlichen Geist ein kommerzielles Unternehmen mit seinem braven Jahresabschluss, seiner Bilanz und seinem Budget für die neue Geschäftsführung machen. Sie führen zum Verlust des Sinns für die Kontinuität des Lebens und des Geists. Man endet dabei, ernsthaft zu glauben, dass es vom einen Jahr zum anderen eine Auflösung der Kontinuität gäbe und dass eine neue Geschichte begänne, und man entwickelt Vorsätze und bereut Fehler usw.“ Allein der ernsthaft gefasste Vorsatz, Fehler zu bereuen, würde mich mehr Tage kosten, als ein Jahrzehnt zur Verfügung hat. Jede Kontinuität meines Endlebens und Restgeists wäre dahin. Um die Bedeutung des Worts „Vorsatz“ zu ergründen, nahm ich nach meinem Dauerlauf nicht das Taschentelefon, sondern den Brockhaus zur Hand. Er interpretiert den Vorsatz nicht etwa als läppische Neujahrsabsicht, sondern erklärt allein seine beängstigende juristische Bedeutung: Vorsatz ist „das Wollen eines rechtswidrigen Erfolgs“ (Zivilrecht) oder ein „mit Wissen und Willen“ verwirklichter „Straftatbestand“ (Strafrecht). Also etwas wie Stuttgart 21. Wir können davon ausgehen, dass die meisten Vorsätze am Jahreswechsel später zum Schaden der Menschen realisiert werden, während fast alle guten Absichten, wie etwa keine Mitmenschen oder sich selbst mit Vorsätzen zu malträtieren, auf dem Müllhaufen der Moral landen. In meinem einst vorsätzlich gewählten Beruf als Zeitungsfritze habe ich das Wort „Vorsatz“ übrigens völlig anders kennengelernt: Es bezeichnete früher mit Blei-, später mit Computerbuchstaben gesetzte Texte, die frühzeitig in den „Vorsatz“ für den späteren Umbruch (Layout) und Druck wanderten. Dieser ziemlich spezifische Vorsatz, der oft zu einem ausufernden „Stehsatz“ (herumlungernde Artikel) führte, hat technisch nichts gemein mit dem Vorsatz eines Buchs. Der nämlich bezeichnet unter anderem das unbedruckte und gerippte Papier, das den Umschlag an der inneren Vorderseite mit dem ersten Seite des Inhalts verbindet. Dies wiederum ist enorm wichtig für den gefassten Vorsatz, in Zukunft mehr Bücher zur vorsätzlichen Erbauung des Geistes zu lesen: Gerade die unbedruckten Vorsatzseiten sind inhaltlich oft die besten. Bevor ich mich auf Wortspielereien mit der Vokabel „Satz“ und ihren Vorsilben einlasse, um mit dem Vorsatzhammer den feinen Unterschied zwischen Ein- und Aussatz zu erhellen, mache ich auf dem Absatz kehrt und komme zum Schlusssatz – von dem einst niemand geglaubt hat, dass man ihn mal mit drei „s“ schreiben wird. Jeder Vorsatz lässt sich ohne Ersatz streichen. Am Ende geht es sowieso nur um den Umsatz, für den man den Nesenbach unter die Erde verbannt hat. Womöglich aber rumort der in der Unterwelt und verwandelt sich schon bald in einen Sprengsatz. |
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