Bauers DepeschenFreitag, 29. Dezember 2017, 1897. DepescheHört die Signale! MUSIK ZUM TAG Die aktuelle StN-Kolumne: REVOLUTION Wir sind wieder so weit, angeblich „zwischen den Jahren“, als wären das zu Ende gehende und das kommende zwei Mühlsteine oder zwei Fronten, zwischen die man geraten kann. In Wahrheit gibt es nicht mal einen Millimeter Raum oder eine Tausendstelsekunde Pause zwischen dem alten und dem neuen Jahr, wenn uns hierzulande die Pyromanen mit Lärm, Gestank und Dreck vom einen ins andere hinüberballern oder vollends aus den Stiefeln schießen. Nur ein paar Verirrte laufen mit der Botschaft „Bauernbrot statt Böller“ durchs Schlachtgetöse. Doch haben sie mit ihrem Hinweis auf das Elend und den Hunger in der Welt keine Chance gegen Kugelbomben, Marschflugkörper und Kanonenschläge, schon weil sich die Hobbyfeuerwerker an Silvester bis zum Anschlag vollstopfen getreu ihrer Moral: Erst kommt das Fressen – und dann kommt das Fanal. Stuttgart ist seit jeher ein ergiebiger Jahresendkriegsschauplatz. Dank seiner Kessellage können die Aggressoren sehr effektiv Raketenangriffe starten und die Schlachtenbummler das Ganze mit viel Übersicht auf den Hügeln begaffen. Die Silvesternacht zählt nicht unbedingt zu unseren politisch verordneten „Luftreinhaltetagen“, die schon in ihrer Wortkonstruktion nichts anderes sind als billige Täuschungsmanöver: Kein Mensch kann längst vergiftete Luft „reinhalten“, selbst dann nicht, wenn er mal einen Tag lang keinen Dreck machen sollte, weil sein Porsche Cayenne von Autoschiebern geklaut oder von Revolutionären an den Laternenpfahl gehängt wurde. Das Thema Dreck erinnert mich an eine Geschichte, die uns im neuen Jahr beschäftigen könnte, weil 2018 überall Erinnerungsveranstaltungen an die deutsche Revolution und das Ende des Kriegs vor hundert Jahren auf dem Programm stehen werden. 1918 hat man auch bei uns im Land die Monarchie abgeschafft, mit einem weinenden Auge, weil viele Untertanen Württembergs König Wilhelm II. für einen netten Kerl hielten und ihm schwanzwedelnd „Grüß Gott, Herr König“ zuriefen, wenn er mit seinen zwei Hunden der Marke Spitz durch die Stadt spazierte. Ich will das damalige rebellische Potenzial unseres Landstrichs nicht bewerten, bin ich doch trotz meines Alters dem alten Wilhelm nicht mehr persönlich begegnet. Heute kann ich nach mehreren Undercover-Beobachtungen lediglich berichten, dass unser Oberbürgermeister in den Straßen auch deshalb so gut wie nie gegrüßt wird, weil ihn kein Mensch erkennt. Er sollte sich wenigstens einen Spitz anschaffen. Viel spektakulärer als bei uns ging es bei der Revolution 1918/19 in unserer südlichen Nachbarstadt München zu. Der Publizist Volker Weidermann hat über die bayerische Räterepublik das schöne Buch „Träumer – Als die Dichter die Macht übernahmen“ gemacht, eine spannende und einfühlsame Geschichte im Reportagestil über die kurze Ära der politischen Macht großer Schriftsteller wie Kurt Eisner, Oskar Maria Graf, Erich Mühsam, Ernst Toller. Nach der Besetzung des Wittelsbacher Palais durch die Revolutionäre beschreibt Ernst Toller, wie die Menschen in München auf einmal glauben, „die Räterepublik sei geschaffen, um private Wünsche“ zu erfüllen. Auch allerlei Spinner aus dem aufgebrachten Volk drängen sich in den Palast und fordern die Umsetzung ihrer Heilslehren. „Sie erinnern“, wird Ernst Toller im „Träumer“-Buch zitiert, „alle an jenen schwäbischen Schuster, der in einer umfangreichen Broschüre zwingend bewies, dass die Menschheit nur darum moralisch krank sei, weil sie ihre elementaren Bedürfnisse in geschlossenen Räumen verrichte und künstliches Papier benütze. Wenn sie, doziert er, diese Minuten in Wäldern verbrächten und mit natürlichem Moos sich behülfen, würden auch ihre seelischen Giftstoffe im Kosmos verdunsten, körperlich und seelisch gereinigt, als gute Menschen kehrten sie zur Arbeit zurück, ihr soziales Gefühl wäre gekräftigt, der Egoismus verschwände, die wahre Menschheit erwachte, und das Reich Gottes auf Erden, das langverheißene, bräche an.“ So weit Tollers Rapport. Leider ist mir über dieses Münchner Kapitel schwäbischer Umsturzbeihilfe nichts Genaueres bekannt, auch nicht der Name des Schusters, der die körperlichen und seelischen Luftreinhaltetage und damit einen entscheidenden Beitrag zum Umweltschutz vorweggenommen hätte. Wäre sein Aufruf zur Rektalrevolution erhört worden, müsste ich heute nicht nach mehreren Drohungen aus meinem politisch besorgten Umfeld Recyclingpapier im kapitalistisch verrohten Supermarkt suchen. Jahrelang hatte ich bei meinem täglichen Ritual der Ruhe und Besinnung fünflagige Komfortprodukte aus hochwertigem Frischfaserpapier bevorzugt. Durch dieses verschwenderische Vergnügen dekadenter Hinterbackenhygiene, wurde ich eines Tages belehrt, würden allein deutschlandweit Millionen Tonnen Holz durch den Abfluss gespült. Um dies nicht länger zu verantworten, musste ich meine intime Sitzordnung ändern. Die Hinwendung zu Recyclingpapier bedeutete Verdruss und Verzicht. Der Öko-Komplex kratzte lange an meinem Selbstbewusstsein. Nach meinem Gefühl geht dieses umweltschonende Biomaterial auf keinen Fall sanfter mit einer unserer wichtigsten Körperzonen um als das wilde Moos in den Wäldern. Ob die Konsistenz unseres heutigen Mooses aufgrund schwerer Luftreinhaltetage-Verbrechen womöglich nicht mehr gar so geschmeidig ist wie zuzeiten der Münchner Revolution, spielt bei meiner Betrachtung keine Rolle – schon weil die Rolle an sich nur bei der heutigen Methode menschlicher Post-BedürfnisReinigung von Bedeutung ist. Das weitgehend vergessene Moos-Putzverfahren bedarf dagegen keiner Klorollentechnik, wie sie bei uns in geschlossenen Räumen üblich ist – an Örtchen, die nach Erkenntnis des schwäbischen Schusters miese Charaktere geradezu züchten, weil sie die Verdunstung seelischer Giftstoffe im Kosmos unterbinden. Und somit verhindern, dass unsere Moral zum Himmel stinkt, wo sie der liebe Gott riechen könnte. Und nun soll die neue Zeit meinetwegen kommen. Ich jedenfalls bin nicht zwischen die Jahre geraten, nur in die gedanklichen Abgründe der Schließritze, die ein revolutionärer schwäbischer Schuster vergeblich neu beleuchtet hat. |
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