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Samstag, 25. Oktober 2014, 1369. Depesche



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FUSSBALLSPORT: Stuttgarter Kickers - Energie Cottbus 2:2



LIEBE GÄSTE,

es gibt es in diesem Jahr noch zwei Flaneursalon-Abende. Am Samstag, 29. November, mit Zam Helga & Ella Estrella Tischa im Selbstverwalteten Stadtteilzentrum Gasparitsch in Ostheim, Rotenbergstraße 125. Und am Dienstag, 16. Dezember, in der Kneipe Schlesinger. Näheres demnächst. - Karten gibt es noch für die Benefiz-Show "Die Nacht der Lieder" am 9. und 10. Dezember im THEATERHAUS. Telefon: 07 11 / 4 02 07 20. Die Einnahmen gehen an die Aktion Weihnachten der StN und damit an Menschen in Not.



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LIED DES TAGES



AM SAMSTAGNACHMITTAG begann die große Party zum 30-jährigen Bestehen von Ratzer Records. Auf Wunsch hier der Text meiner Laudatio:



SCHöNEN GUTEN TAG Tag im Plattencafé Ratzer Records,

willkommen in der Stuttgarter Altstadt am Leonhardsplatz, direkt an der schönen Stadtautobahn.

Meine Damen und Herren,

die Zahl Dreißig ist mit Blut befleckt. In der Geschichte kennt man die Herrschaft der Dreißig, einer Terrorbande von 30 Oligarchen 400 Jahre vor Christus in Athen. Alle haben wir auch schon mal vom 30-jährigen Krieg gehört, auch eine ziemlich harte Sache mit reichlich Leichen. Und erst ein paar Tage ist er her, dass uns aufrechte Menschen mit der Botschaft warnten: Trau keinem über dreißig.

Jetzt also, im Jahr 2014 nach Christus, der erste Lichtblick in der Geschichte der mysteriösen Zahl Dreißig: Drei Jahrzehnte hat das Unternehmen Ratzer Records auf dem Buckel, gegründet ausgerechnet in Georg Orwells Jahr 1984, als das Schwarzwaldsterben begann und die Bundeswehr Frauen einstellte. Allein die Firma Ratzer hat uns in den fast 11 000 Tagen ihres Bestehens niemals die geringste Schande gemacht – sieht man davon ab, dass sie sehr merkwürdige Verbindungen unterhält zu zwielichtigen Institutionen wie VfB Stuttgart, Schwabenbräu und Led Zeppelin. Telegramm-Glückwünsche hat übrigens Robert Plant geschickt, unter uns ist bereits der Geist von John Bonham.

Meine Damen und Herren, ganz neu in diesem ehrenwerten Haus hier ist, dass man am vergangenen Wochenende, rechtzeitig zur Stuttgartnacht, das Ende der Prohibition ausgerufen hat. Inzwischen geht hier die Parole um:

Plattenrille und Promille

Dieser Spruch war nicht besonders gut, eher der aktuellen Reklame gewidmet. Sie kennen das Zeitgeist-Niveau des Müllaneos: „Das Ländle sucht Schnäpple am Mailändle.“ Drunter steht: „Ich bin doch nicht blödle.“ – Mit dieser Art berechnender Marketing-Blödheit, meine Damen und Herren, haben wir hier nichts zu tun. Sie, liebes Publikum, haben jederzeit die Möglichkeit, sich in eine stilvolle Einkaufsnische und eine absolut funktionierende Austauschbörse wie das Plattencafé Ratzer zurückzuziehen. Wir könnten sogar eine ganze Zeitlang in diesen Räume überleben, ohne sie je zu verlassen: Es gibt hier reichlich für die Seele und für den Bauch, und wer dann immer noch nicht genug hat, kann sich eine Platte kaufen – und aus der Welt tanzen.

Jetzt habe ich schon eine ganze Weile geredet, wahrscheinlich um einiges länger, als ein weltumfassender Song der Ramones dauert – und exakt an dieser Stelle ist es jetzt Zeit für Sie, meine Damen und Herren, Ihre prohibitonsbefreiten Gläser zu erheben und den ersten Tusch des Tages auszusprechen: Herzlichen Glückwunsch an Brigitte und Karl-Heinz Ratzer für 30 Jahre im Dienst der gepflegten Musik, herzlichen Dank für ihre Arbeit als Entwicklungshelfer in der Diaspora Stuttgart.

Vor elf Jahren habe ich mal einen kleinen Artikel über Ratzer Records in der Paulinenstraße 44 geschrieben, darin finden sich diese Sätze:

„Alles im Laden erinnert an Nick Hornbys tragikomischen Roman „High Fidelity“. Ratzer ist Ende vierzig, Hornbys Held Rob Fleming, der Chef des Plattenladens Championship Vinyl, erst Mitte dreißig. Aber Typen, die Pop-Platten horten, haben kein wirkliches Alter. Sie sammeln, um die Zeit anzuhalten.“

Man kann die Zeit nicht anhalten, das wissen wir. Aber man kann die Zeit festhalten wie der Zigarren-Händler Auggie in Paul Austers Film „Smoke“. Auggie, gespielt vom einzigartigen Harvey Keitel, fotografiert jeden Tag denselben Ort, die Kreuzung vor seinem Kiosk in Brooklyn. Auf diese Weise fängt er die Zeit ein, macht sie sichtbar. – Mit Platten kann man etwas Ähnliches machen: Man muss nur dokumentieren, wann man sie zum ersten Mal gesehen, gekauft und gehört hat. Und beim Hören wird uns die Platte alles über unsere Zeit erzählen, ähnlich wie Auggies Bilder.

Bei diesem 30. Betriebsjubiläum, das wir heute an diesem buchstäblich wunderbaren Ort begehen, gibt es mehrere Gründe zu feiern. Zum Dreißigsten gesellt sich nämlich das Dreijährige an diesem exponierten Stuttgart-Platz, er zählt zu meinem Lieblingsecken. Hier, im Leonhardsviertel, im historischen, im vergessenen Zentrum der Stadt, muss man erst mal drei Jahre durchhalten. Diesem Risiko, dieser Herausforderung stellen sich nur Menschen mit Herz. Ganz zu schweigen, dass sich viele Leute gar nicht hierher trauen, weil sie glauben, hier sei Sodom und Gomorrha.

Dieser Plattenladen ist eine kleine Kirche des Vinyls, und Karl-Heinz Ratzer und seine Frau Brigitte verteidigen diese heilige Stätte mit einer biblischen Würde und einer städtischen Gelassenheit. Das ist eine verdammt gute und wichtige Arbeit.In einem solchen Laden kommt viel zusammen, da muss man etwas ertragen, nicht nur Leute wie Sie, verehrtes Publikum, oder mich. Kommt schon mal vor, dass ein psychedelisch leicht befeuerter Herr aus der Nachbarschaft am Samstagvormittag kopfüber in den Laden stürzt und eine saubere Bauchlandung hinlegt. Das ist die Altstadt-Variante des Stage-Diving.

So etwas gehört zum Rock 'n' Roll des Viertels, solche Einlagen sind so erregend wie die Gewissheit, dass ein paar Tage später großartige Musiker zu einem Live-Auftritt in diesen Laden kommen.

Und jetzt einige Fakten zur Geschichte dieses Ladens: Vor etlichen Jahren war hier das Café Schlauder, eine berühmte Rotlicht-Bar im Besitz des legendären Rennfahrers und Silberpfeil-Piloten Hans Hermann; er ist noch unter uns und war auch schon da, um seine alte Stätte zu besichtigen.

Stammgast im Schlauder war ein Altstadt-Musikant namens Kotlett, Geiger und Kontrabassist. Mit seinem Trio beherrschte er alle Feiern im Rotlichtmilieu und auch die Sommerfeste der Stuttgarter Kickers. Manchmal rollte er mitten im Konzert rückwärts ins Gebüsch. Dann war er müde. Mit dieser Anekdote will ich nicht gegen das langweilige Ratzer'schen Hausgespenst VfB stänkern, nur eine Lebenslinie aufzeigen: In diesen Räumen hier war immer, wenn auch mit Unterbrechungen, der gute Geist aufregender Musik zu Hause.

Bevor die Ratzers hier ihren originellen Mix aus Plattenladen und Mini-Bar schufen, beherbergten die Räume ein Restaurant der Caritas. Es hieß Bohne, weil sich die Betreiber im Bohnenviertel wähnten. Das heutige Bohnenviertel aber beginnt erst an der Pfarrstraße am Züblinparkhaus.

Inzwischen ist das Plattencafé Ratzer Records eine der schönsten Trutzburgen im Rotlichtmilieu, eine der friedlichen Oasen, die der Elendsprostitution in diesem Quartier etwas entgegensetzen: nämlich das kleine tägliche Fest fürs Leben.

Ich erzähle diese Dinge, damit wir besser verstehen können, wo wir sind in einer Stadt, deren Politiker die eigene Geschichte ausblenden, damit kein Gedanke an Stuttgarts wahren Charakter die größenwahnsinnigen Immobilien- und Einkaufsprojekte stört. -

Von der Altstadt kommen wir jetzt zum so gut wie nie gealterten Chef dieses Ladens: Karl-Heinz Ratzer, geboren vor sechzig Jahren in Pforzheim, der Wiege internationaler Show-Größen wie Bertha Benz, René Weller und Stefan Mappus.

Ratzers Frau Brigitte hat mir neulich erzählt, ihr Mann sei ein Sturkopf. Einer, der immer durchzieht, was er sich vorgenommen hat. Einer, der sein Ding macht. Er wurde schon früh geformt an den harten Fronten des Lebens. Internat. Ausstiegsversuch als zwölfjähriger, im Kirchenchor geschulter Sänger einer Beat-Band mit dem durch und durch wegweisenden Namen Movement.

Herr Ratzer war auch Fußballer. Und er war Kriegsdienstverweigerer in der Ära der unsäglichen Gewissensprüfungen, die nach folgendem Verfahren über die Bühne gingen. Der Gewissensprüfer sagte zum Deqlinquenten: Sie, Pazifistenwurm, gehen mit Ihrer jungen hübschen Freundin im Wald spazieren. Da überfällt sie ein nackter Russe mit einer Kalaschnikow im Arm. Zufällig haben auch Sie eine Kalaschnikow dabei. Was tun Sie, wenn der nackte Russe Ihre Frau angreift? – Meines Wissen hat Ratzer dem Richter geantwortet:

Ich lege „Whole Lotta Love“ von Led Zeppelin auf.

Der Russe war erledigt. Ratzer kam durch. Selbstverständlich hat man Karl-Heinz, 1954 im Jahr der deutschen Fußball-Weltmeister geboren, dazu gebracht, einen sogenannten ordentlichen Beruf zu lernen. Er wurde Kaufmann für Eisenbeschläge, ein Produkt, das man immer brauchen kann. Diese Berufswahl erklärt auch seinen hocherotischen Hang zum Heavy Metal.

Wenn Du vorbelastet bist als Rockstar und als Fußballspieler, dann bleibt dir nach langem Nachdenken nur eine einzige Möglichkeit, diese beiden Dinge zu verbinden: Du machst einen Plattenladen auf, dann schlägst du wie Nick Hornbys Romanhelden zwei Fliegen mit einer Klappe. Wo Platten rotieren, rollt fast immer auch der Ball. Jedenfalls in vielen Köpfen. Ich kann mir den abgenudelten Witz fast sparen, dieser kulturelle Doppelpass funktioniere nun mal, weil Plattenfans und Fußballfans immer eins zusammenhält: Sie haben beide eine Scheibe.

Vor der Meisterzeit zahlt man bekanntlich Lehrgeld. Herr Ratzer arbeitete im Plattenladen Govi am Kleinen Schlossplatz, ehe er sich selbständig machte. Erst in der Paulinenstraße 50, später, als die Scheiben nicht mehr so wahnsinnig gut gefragt waren, im etwas kleineren Laden in der Paulinenstraße 44. Da hatte der Lead-Sänger Karl-Heinz bereits ein Duo gegründet. Inzwischen ist er mit seiner Frau Brigitte, einer gelernten Schneiderin und Kostümdesignerin, 29 Jahre lang verheiratet. Kennengelernt haben sie sich in der Disco Oz in der Kronprinzstraße bei einem Konzert des schwäbischen GI-Sohns David Hanselmann, wie Ratzer bis heute ein großer Soul-Sänger. Über die näheren Umstände der Ratzerschen Paarung weiß ich nichts, die gehen auch keinen etwas an.

Von gewissen, rein beruflichen Solo-Projekten abgesehen, haben die Ratzers die meiste Zeit zusammen im Plattengeschäft gearbeitet. Das ist nicht einfach für eine Frau, deren Mann in den Charts der Menschheit Led Zeppelin noch vor Jesus Christus, Che Guevara und Hansi Müller einordnet.

So wird man mit der Zeit als ein Mann, in dessen Laden eines Tages ein Heiliger aus rotem Himmel auftauchte, einen, den man einst messiashaft als Wundermann feierte. Das war der VfB-Trainer Jürgen Sundermann, bis heute ist er ein Freund der Ratzers. Sundermanns Sohn Mark war mal ein Kollege von Karl-Heinz. Der Wundermann hat übrigens enmal bei einem Spiel die fußballerische Gurken-Truppe von Govi gecoacht und zum einzigen Sieg ihrer Geschichte geführt. –

Dreißig Jahre Ratzer Records, meine Damen und Herren. Kein Grund, noch weiter in die Vergangenheit zu schauen. Drei Jahrzehnte im Platten-Geschäft haben nichts, rein gar nichts mit Nostalgie zu tun. Die Beschäftigung mit Musik handelt immer von der Realität, von der Entwicklung, von der Sicht auf die Dinge, die sich ändern.

In Michael Chabons in diesem Jahr erschienen Roman „Telegraph Avenue“, einer Geschichte über einen amerikanischen Plattenladen, findet man einen sehr schönen Satz über das Verhältnis zu Vinyl und die Plattenhändler-Kunst des einhändigen Katalogisierens: „Eine LP aus der Kiste zupfen, die Schutzhülle aus dem Cover kitzeln. Finger in die Hülle schieben. Die Platten mit den Fingerspitzen kellnergleich herausjonglieren, lediglich das Label berühren. Sie in einem bestimmten Winkel in das durchs Fenster fallende Morgenlicht halten.“

Auf dieses Art und Weise, meine Damen und Herren, erfahren Sie eine Menge über die Beziehung eines Menschen zu seiner Platte und die Wahrheit über deren Zustand. Die Platte als kleines Gesamtkunstwerk verschafft uns einen unvergleichlichen, einen vom Kopf bis in die Fingerspitzen hinein spürbaren Zugang zur Musik. Oder um es mit einem Kalauer zu sagen: In Vinyl veritas.

Wer den Vinyl-Liebhaber als Gestrigen verhöhnt, hat aus der Vergangenheit so wenig gelernt, dass er weder etwas über die Gegenwart noch über die Zukunft wissen kann. Zukunft ist meist nur ein anderes Wort für die aufgekochte Kacke, die man dem Kunden als Fortschritt verkauft.

Tragen Sie, liebe Gäste, deshalb die Kunde hinaus in die Stadt vom ewigen Leben der Schallplatte, von der Poesie der schwarzen Rille, vom einzigartigen Plattencafé Ratzer Records. Meinetwegen kann der Ratzer zur Feier des Tages jetzt sofort Led Zeppelin auflegen, und meinetwegen kann sogar nachher der VfB bei Eintracht Frankfurt gewinnen.

Die Party ist eröffnet, meine Damen und Herren, ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Und jetzt bitte ich Sie um einen dreißigtausendfachen Schwer-Metaller-Applaus für Ratzer Records . . .



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