Bauers Depeschen


Freitag, 06. Juli 2012, 942. Depesche

NOTIZEN

- Der nächste Flaneursalon ist am Dienstag, 25. September, im Club Speakeasy, Rotebühlplatz 11. Mit Toba Borke & Pheel, Zam Helga, Dacia Bridges & Alex Scholpp.



TAGEBUCH

Ich wollte von vorne anfangen. Es gab kein Hinten.

 

SOUNDTRACK DES TAGES



Etwas aus meinen Beständen:



DER VOLLHEUTIGE

Viel bin ich nicht herumgekommen in den vergangenen Tagen. Bad Berg. Dachswald. Sofa. Auf dem Sofa las ich eine Kurzgeschichte von James Salter: "Es war eigentlich wie in einer Ehe, uninteressant, aber was gibt es sonst?"

Das gab mir Hoffnung. Ich führe keine Ehe.

Die Schwierigkeiten von Beziehungen fangen an, bevor die Beziehungen beginnen. An der Haltestelle Berliner Platz hörte ich einen Jungen zu einem Mädchen sagen: "Warum nimmst du mich nicht mit zu dir nach Hause? Schließlich habe ich das Essen bezahlt!"

Junge, wollte ich sagen, du warst beim falschen Koch. Der Junge sah stärker aus als ich. Seinen Satz, er habe das Essen umsonst bezahlt, schrieb ich in mein Notizbuch. Wenn tagelang nichts in mein Notizbuch wandert, war das Leben wie in einer Ehe.

Am Sonntag, als es sonst nichts gab, sah ich mir den amerikanischen Dokumentarfilm "Inside Job" an, er handelt von den Gründen des Börsendesasters 2008. In dem Film sagt ein Banker: Die wenigen Experten, die davor gewarnt haben, dass die Blase platzt, hat man als Ewiggestrige verspottet.

Der "Ewiggestrige" schlug bei mir ein. Ich kenne das Wort. Der Ewiggestrige ist ein politischer Kampfbegriff, ein Totschlagargument. Ständig versucht das Zockerpack, Gegner und Opfer des Blasenplatzens als Hinterwäldler, Waldschrate, Hippies zu verspotten.

Leute, die andere Leute Hippies nennen, haben keine Ahnung, wo das Wort Hippie herkommt. Was es bedeutet. Wer anderen Leuten unterstellt, ewiggestrig zu sein, weiß so gut wie nie etwas über das Gestern. Vom Ewigen ganz zu schweigen. Woody Allen sagt: Die Ewigkeit dauert lange, besonders gegen Ende.

Ich frage mich: Was kommt eigentlich nach der Zukunft?

Neulich hat mir ein Fortschrittlicher seine Erkenntnis gemailt, Leute, die gegen S 21 protestierten, seien "Nostalgiker". Und weil er nicht genau wusste, was das ist, lieferte er kopierte Textstellen aus Wikipedia mit: Nostalgiker, ist da zu lesen, verklärten die Vergangenheit. In einem eigenständig formulierten Satz fügte er hinzu: Leute, die gegen Stuttgart 21 protestierten, hörten nur Jimi Hendrix und Rolling Stones.

Wer solche Klugheiten über den Ewiggestrigen verbreitet, ist ein Vollheutiger.

Ich antwortete dem Vollheutigen, es sei noch schlimmer, als er denke: Manche dieser Leute hörten sogar Mozart und Bach. Bis heute hätten sie nicht das Zeitgemäße und Morgige von Florian Silbereisen erkannt.

Lustig ist, wenn ich mir bei Ratzer Records in der Altstadt neue Schallplatten gekauft habe und mit meiner Tüte nach Hause gehe. So gut wie immer treffe ich unterwegs einen Vollheutigen, der mich fragt, ob ich "wieder alte Scheiben" gekauft hätte, von Hendrix, den Rolling Stones oder so. Wenn ich antworte, ich hätte mir gerade brandneue Vinyl-Produkte von blutjungen Musikanten besorgt, alle erst gestern aufgenommen und heute veröffentlicht, schaut mich der Vollheutige mitleidig an. Er denkt, ich leide an Alzheimer.

Mein Hinweis, der Ewiggestrige könne mithilfe seiner LP die Musik sogar im Internet herunterladen oder als CD hören, bringt den Vollheutigen vollends aus der Fassung. Woher soll er wissen, dass CD oder Download-Code oft serienmäßig im LP-Cover liegen? Der Vollheutige ist bis heute nicht im Heute angekommen. Jeder Musiker, der etwas auf sich halte, sage ich zum Vollheutigen, bringe seine Musik auch auf Vinyl heraus. Eine Frage des Stils. Der Vollheutige glotzt ungläubig.

Ich sage: Vinyl ist wie Sex. Nicht Internet-abhängig, im Notfall zum solistischen Herunterladen geeignet, aber auch bei zwischenmenschlichen Übungen. Das Essen zu bezahlen ist ja heute keine so sichere Sache mehr.

Verstehst du, sage ich zum Vollheutigen, einer LP-Hülle die Plastikfolie abzustreifen, die dichte Pressung mit heißen Fingern zu streicheln, das Ding in den Händen zu halten, das Schwarze Gold samt Booklet herauszuziehen, die Nadel richtig anzusetzen, das ist ein haptisches Erlebnis, erregender als deine Ehe, wo es sonst nichts gibt.

Früher, als es Vinyl und keine CDs und keine Computer gab, hat mich diese Erfahrung nicht angemacht. Oft ist mein schwarzes Gold in Whiskey-Cola geschwommen und kaputt gegangen. Heute bin ich scharf auf die Dinger. Beim ewiggestrigen Elektrogeschäft Dräger in der Hauptstätter Straße habe ich mir einen nagelneuen Plattenspieler gekauft. Damit höre ich Musik, die es heute ohne Mozart und Hendrix nicht gäbe.

Der Ewiggestrige – um die Sache abzuschließen – ist ein Außerirdischer, der Vinylplatten hört und Filme im Kino schaut, Bücher liest, Museen besucht und im Gegensatz zum Vollheutigen weiß, dass es auch Museen für Zeitgenössisches gibt. Der Ewiggestrige macht diese Dinge, damit er eher heute als morgen merkt, welche aufgekochte Scheiße die wahren Gestrigen dem Vollheutigen als Fottschritt und Tsukunft verkaufen.



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