Bauers Depeschen


Montag, 02. Juli 2012, 940. Depesche

NÄCHSTER FLANEURSALON: Dienstag, 25. September, Speakeasy, Rotebühlplatz 11. Mit Toba Borke & Pheel, Zam Helga, Dacia Bridges & Alex Scholpp.



SOUNDTRACK DES TAGES



Die garantiert letzte StN-EM-Kolumne:



EIN FIASKO,

WENN WIR AUF UNSEREN STIL VERZICHTEN WÜRDEN

Es lässt sich endlos darüber streiten, ob Fußball der demokratischen Aufklärung dient oder der Ablenkung von politischen Verhältnissen. Die Diskussion darüber aber ist so ergiebig wie die Frage, ob Musik eine Revolution zum Sieg führt. Wer sich die EM von Waldemar Hartmanns Lachsäcken im Leipziger Bahnhof und Katrin Müller­Hohensteins Strandliegen-Tratsch mit Olli Kahn im Usedomer Feuchtgebiet näherbringen ließ, hat seinen Fußballhorizont womöglich nicht entscheidend erweitert.

Zum Glück stand auch andere Begleit­musik zur Verfügung. Rechtzeitig zur EM hatte der ukrainische Dichter Serhij Zhadan, Jahrgang 1974, bei Suhrkamp das Buch „Totalniy Futbol“ herausgegeben. Darin äußert er die Hoffnung auf einen Sieg des Fußballs über die Politik – und den Wunsch, dass für all die in seinem Land, die an den „totalen Fußball“ glauben, „diese Meisterschaft eine wunderbare Gelegenheit zur Vereinigung und Verständigung werden wird. Was hätte sie sonst für einen Sinn?“

Diese Frage lässt sich aus der Ferne nicht beantworten. Der Fußball allerdings erreicht bereits so viel wie manche politische Demonstration, wenn er Fragen aufwirft. Im erwähnten Buch, in einem Text über den 2002 verstorbenen Trainer Walerij Lobanowski, finden sich diese Zeilen von Juri ­Andruchowytsch: „Fußball ist eine Fata Morgana. Du strebst dem Ziel zu, das du dir gesetzt hast, aber kaum ist es erreicht, stellt sich am nächsten Tag heraus, dass es dir nur so schien, als hättest du es erreicht. Denn alles ist schon wieder zerronnen.“

Damit sind wir in der dominierenden Diskussion über die EM 2012. Pausenlos kritisieren Kommentatoren den fantastischer Fußball von Xavi, Iniesta & Co mit der hilflosen Floskel: „Spanien nervt.“ Das Gefühl, „dass ein lange großartig anmutendes Modellbeispiel des modernen Kombinationsfußballs seine besten Tage hinter sich hat“, sei „jetzt schon un­abweisbar“, schrieb die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“.

Wegweisende Kunst wird oft mit überheblicher Ablehnung bestraft, sobald sie ihren revolutionären Kick hinter sich hat. Das Totschlagargument gegen Spaniens Fußball heißt „Langeweile“. Vermisst werden Wucht, Körperlichkeit, Torschüsse. Vielen ist Spaniens Spiel wohl auch ein Ärgernis, weil es, anders als die Kreisklasse-Komik in „Waldis Club“, kein „Das können wir auch“-Gefühl beim Partyvolk zulässt.

Der spanische Trainer Juan Manuel Lillo, Lehrmeister von Barças Ex-Trainer Josep Guardiola, sagt: Das Problem sei, „dass die meisten Menschen den Fußball betrachten, als ob man ihn in Kapitel aufteilen müsse. Wir müssen uns im Fußball von Begriffen wie Angriff und Verteidigung lösen. Angriff und Verteidigung existieren nicht. Das sind Hilfsbegriffe, die wie aus kollektiven Sportarten entlehnt haben, die mit der Hand ­gespielt werden. Aber im Fußball kannst du den Ball eben nicht festhalten.“

Also haben Spaniens Trainer neue Formen der Ballannahme, der Balleroberung und der Spielübersicht entwickelt. Diese Technik ermöglicht kurze Pässe und einen immensen Druck auf den Gegner. Der Fan mag Torschüsse vermissen. Dem konzentrierten Fußballliebhaber eröffnen sich die Reize brillanter Spielordnung.

Der Spieler Iniesta, ein vollkommener Fußballer, sagt: „Eine Niederlage ist niemals ein Untergang. Ein Fiasko wäre es, wenn wir auf unseren Stil verzichten würden, wenn wir nicht mit unseren Waffen kämpfen, das Feld nicht leer vor Anstrengung verlassen würden . . . doch das wird nicht geschehen.“ Diese Worte erklären den Unterschied zwischen Spaniens in Jahrzehnten gewachsenem Fußball und herkömmlichen Taktiken. Die Trainer anderer Nationalteams haben eine „Philosophie“: Sie realisieren (wie Löw gegen Italien) eine auf den Gegner ausgerichtete Strategie. Die Spanier dagegen haben eine Haltung. Mit ihrer einzigartigen Balltechnik machen sie kompromisslos ihr Ding. Das ist Kunst.

Dass es im Fußball mit seinen Zerstörungstaktiken keine Erfolgsgarantie gibt, auch nicht für die Spanier, ist zum Glück eine Binsenweisheit. Auch gute Künstler haben schlechte Tage. Im Übrigen steht es jedem Team auch in Zukunft frei, die Furia Roja mit einer spannenden, spektakulären Leistung, mit totalem Fußball zu besiegen.

Das gilt auch für das deutsche Team. Folgte man der Propaganda von ARD und ZDF, war die Finalniederlage der spanischen Langweiler gegen Löws Jugend-forscht-Team programmiert. Welche Gnade, dass die Italiener dazwischenkamen.

Die Azzurri stehen nicht für Kunst. An die Hollywood-Grandezza von Typen wie Pirlo und Balotelli denkt man dennoch mit Freude zurück. Womöglich aber ist schon morgen der Tag, an dem alles zerrinnt.



KOMMENTARE SCHREIBEN IM LESERSALON

DIE STN-KOLUMNEN



FRIENDLY FIRE:

NACHDENKSEITEN

FlUEGEL TV

RAILOMOTIVE

EDITION TIAMAT BERLIN

Bittermanns Fußball-Kolumne Blutgrätsche

VINCENT KLINK

KESSEL.TV

GLANZ & ELEND



 

Auswahl


Depeschen 2311 - 2318

Depeschen 2281 - 2310

Depeschen 2251 - 2280

Depeschen 2221 - 2250

Depeschen 2191 - 2220

Depeschen 2161 - 2190

Depeschen 2131 - 2160

Depeschen 2101 - 2130

Depeschen 2071 - 2100

Depeschen 2041 - 2070

Depeschen 2011 - 2040

Depeschen 1981 - 2010

Depeschen 1951 - 1980

Depeschen 1921 - 1950

Depeschen 1891 - 1920

Depeschen 1861 - 1890

Depeschen 1831 - 1860

Depeschen 1801 - 1830

Depeschen 1771 - 1800

Depeschen 1741 - 1770

Depeschen 1711 - 1740

Depeschen 1681 - 1710

Depeschen 1651 - 1680

Depeschen 1621 - 1650

Depeschen 1591 - 1620

Depeschen 1561 - 1590

Depeschen 1531 - 1560

Depeschen 1501 - 1530

Depeschen 1471 - 1500

Depeschen 1441 - 1470

Depeschen 1411 - 1440

Depeschen 1381 - 1410

Depeschen 1351 - 1380

Depeschen 1321 - 1350

Depeschen 1291 - 1320

Depeschen 1261 - 1290

Depeschen 1231 - 1260

Depeschen 1201 - 1230

Depeschen 1171 - 1200

Depeschen 1141 - 1170

Depeschen 1111 - 1140

Depeschen 1081 - 1110

Depeschen 1051 - 1080

Depeschen 1021 - 1050

Depeschen 991 - 1020

Depeschen 961 - 990

Depeschen 931 - 960
11.08.2012

08.08.2012

05.08.2012
03.08.2012

01.08.2012

30.07.2012
28.07.2012

26.07.2012

24.07.2012
23.07.2012

21.07.2012

19.07.2012
17.07.2012

16.07.2012

14.07.2012
12.07.2012

10.07.2012

07.07.2012
06.07.2012

04.07.2012

02.07.2012
30.06.2012

29.06.2012

27.06.2012
25.06.2012

24.06.2012

23.06.2012
22.06.2012

19.06.2012

18.06.2012

Depeschen 901 - 930

Depeschen 871 - 900

Depeschen 841 - 870

Depeschen 811 - 840

Depeschen 781 - 810

Depeschen 751 - 780

Depeschen 721 - 750

Depeschen 691 - 720

Depeschen 661 - 690

Depeschen 631 - 660

Depeschen 601 - 630

Depeschen 571 - 600

Depeschen 541 - 570

Depeschen 511 - 540

Depeschen 481 - 510

Depeschen 451 - 480

Depeschen 421 - 450

Depeschen 391 - 420

Depeschen 361 - 390

Depeschen 331 - 360

Depeschen 301 - 330

Depeschen 271 - 300

Depeschen 241 - 270

Depeschen 211 - 240

Depeschen 181 - 210

Depeschen 151 - 180

Depeschen 121 - 150

Depeschen 91 - 120

Depeschen 61 - 90

Depeschen 31 - 60

Depeschen 1 - 30




© 2007-2024 AD1 media ·