Bauers DepeschenDonnerstag, 23. Februar 2012, 869. DepeschePROTEST GEGEN ACTA An diesem Samstag findet auf dem Stuttgarter Börsenplatz (nahe Schlossstraße und Varieté Friedrichsbau) die nächste Demonstration gegen Acta, den Angriff auf die Internet-Freiheit, statt. Beginn ist um 15 Uhr. Eine wichtige Gelegenheit auch für S-21-Gegner, sich mit den Leuten anderer Protest-Bewegungen auszutauschen. Bei der jüngsten Acta-Demo in Stuttgart waren (nach Polizeischätzung!) mehr als 5000 Menschen unterwegs. Käme Acta durch, könnte ich z. B. in Zukunft diesen Link nicht mehr posten: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG ÜBER ACTA "Was nützt der ganze Reichtum, wenn man nur zwei Eier hat?" (Helge Schneider) FLANEURSALON LIVE & BLAUE NACHT Für den Flaneursalon am 28. Februar im Schlesinger gibt es keine Karten mehr. Unser nächster Abend findet am Mittwoch, 9. Mai, in der Friedenau statt. Mit Stefan Hiss, Roland Baisch, Anja Binder & Jens-Peter Abele. Schöner Wirtshaussaal mit großer Tradition im roten Osten. Theater-Restaurant Friedenau, Stuttgart-Ostheim, Rotenbergstraße 127. Leicht mit Bahn und Bus zu erreichen. Karten: 07 11 / 2 62 69 24. - Am Ostersamstag, 7. April, gibt es - nicht nur für Fußballfreunde - die "Blaue Nacht". Der Abend mit dem Ruhr-Poeten und Kabarettisten Fritz Eckenga und dem Countrysänger Roland Baisch findet zu Ehren der Kickers-Fans in der Werkstattbühne des Stuttgarter Autohauses ALBRECHT & DEFFNER statt: Alexanderstraße 36, am Olgaeck. Keine Werbe-Veranstaltung. Non-Profit. Eintritt: 10 €. SOUNDTRACK DES TAGES Die aktuelle StN-Kolumne: HALB SO WILD In diesen Tagen ist es zwingend, die Innereien der Stadt regelmäßig hinter sich zu lassen, um nicht gänzlich den Appetit auf sie zu verlieren. Wie Rocky Balboa mit Kapuzenjacke und Wollmütze schwitzend durch den Wald, auf frisch getautem Boden, die Februarsonne über kahlen, noch fest verwurzelten Bäumen. Man läuft in Gedanken, was nach dem Lauf zu tun sei, vielleicht für eine Frau - und schon liegt Rocky mit zerbrochener Brille im Dachswald auf der Fresse. Mit den gottverdammten Sohlen seiner scheißmodernen Barefoot-Latschen ist er an einer Wurzel hängen geblieben. Gesünder ist es, die Verwurzelungen der Menschen mit ihrer Stadt in den Archiven zu studieren, wie es dieser schöne Text beweist: "Der in den Jahren 1914 bis 1927 von Professor Paul Bonatz erbaute Stuttgarter Bahnhof war ein Glanzstück unter den repräsentativen Bauten unserer Stadt. Die Reisenden waren voll des Lobs über die klare Übersichtlichkeit und Sauberkeit unseres Bahnhofs, den Schwaben aber war dieses, in seiner schlichten Linienführung und soliden Behäbigkeit so sehr dem schwäbischen Geschmack entsprechende Bauwerk besonders ans Herz gewachsen, und sein Anblick erfüllte sie mit lokalpatriotischem Stolz." Weiter heißt es in diesem poetischen Fundstück: "Von der einstigen Sauberkeit ist nichts, aber von der architektonischen Schönheit trotz den schweren Zerstörungen doch so viel übrig geblieben, dass man hoffen kann, den Hauptbahnhof in einigen Jahren ungefähr so vor sich zu sehen, wie er war." Diese Sätze fand ein ehrenwerter Kollege bei seiner Recherche zum Thema "Ruinen" im Archiv; der Artikel ist am 2. Juni 1948 in der "Stuttgarter Zeitung" erschienen. Als die Stadt wieder aufgebaut wurde, ohne Rücksicht auf ihr historisches Gesicht, war vieles ungeklärt, auch im Privaten. Die Menschen mussten wild improvisieren.Wenn Männer, aus dem Krieg oder der Gefangenschaft heimgekehrt, sich bei einer Frau einnisteten, ohne mit ihr einen Trauschein zu besitzen, galt dies als verwerflich. Eine Sünde. Der Not gehorchend, erfand der Volksmund dafür ein originelleres, ein gerechteres Wort. Die Beziehung zwischen Mann und Frau unter einem Dach ohne Ehevertrag nannte man in der Zeit nach dem Krieg "Bratkartoffelverhältnis". Dieses Wort ließ nicht (wie später "Du Bratwurst") Rückschlüsse auf die Qualität der Partner zu. Es klärte darüber auf, dass eine Frau einen Mann in eheähnlichem Status durchfütterte. Oft war dies ein harter Zweitjob, weil die Hilfsbereite bei der deutschen Auferstehung aus Ruinen schon genug als Trümmerfrau zu tun hatte. Das Wort Bratkartoffelverhältnis löste in den späten vierziger Jahren den Begriff "wilde Ehe" ab. Die Wilde Ehe war nach dem Ersten Weltkrieg populär geworden; auch damals ging es um die Überlebenshilfe von Frauen für Männer, die töten, aber nicht kochen gelernt hatten. Obwohl ich erst geboren wurde, als die Deutschen bereits dabei waren, die Fußball-Weltmeisterschaft zu gewinnen, hörte ich später noch recht lange von Bratkartoffelverhältnissen. So bezeichnete man auch die existenzielle Strategie von Studenten, sich von Nicht-Studentinnen aushalten zu lassen, ohne zu fragen, wie das die Frauen aushalten sollten. Bratkartoffelverhältnisse waren ja nicht ungefährlich, weil Vermieter mit dem Kuppeleiparagrafen verfolgt wurden. Später, mit der Liberalisierung des Sex (in Verkennung der nackten Wahrheit "freie Liebe" genannt), geisterte wieder die wilde Ehe herum. Die Entwicklung auf diesem Minenfeld habe ich nicht näher verfolgt, zumal ich mich nie getraut hätte, eigene Non-Kontrakt-Ehen als "wild" zu bezeichnen. Das wäre Hochstapelei gewesen, weil das Adjektiv "wild" Erwartungen weckt, wie sie vielleicht Mickey Rourke und Kim Basinger in "9 1/2 Wochen" und Dominique Strauss-Kahn das ganze Jahr erfüllen.Vor wenigen Tagen noch war ich sogar der Meinung, das Etikett wilde Ehe sei schon lange ausgestorben - bis es wieder auftauchte aus en DDR-Trümmern mit dem Kandidaten für Bellevue. Gewisse Kreise werfen dem 71-Jährigen vor, er führe eine "wilde Ehe": Rechtmäßig mit einer Frau verheiratet, lebt er mit einer Frau zusammen, die offenbar so wenig mit ihm verheiratet ist wie er mit ihr. Dass solche Partnerschaften zwangsläufig von Wildheit geprägt sind, ist nicht bewiesen. Für wilde Ehen unter älteren, nicht verehelichten Leuten gibt es kaum Belege, auch wenn uns der vielbeachtete Kinofilm "Wolke 9", eine Tragikomödie über Sex im Alter, etwas anderes erzählt. Da kommt es zwar zu spontaner, halbwegs wilder Parterre-Akrobatik zwischen Senior und Seniorin ohne gemeinsamen Trauschein. Von einem Bundespräsidenten in spe aber ist weit und breit nichts zu sehen. Deshalb bleibe ich dabei: Die Bezeichnung "wild" für eine Lebensform auf Zweierbeziehungs-Basis ist ohne Video-Beweise nicht statthaft. Was heißt schon "wild"? Unsereins ist zufrieden, wenn er bei seinen Leibesübungen im Dachswald nicht auf die Schnauze fällt. 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