Bauers DepeschenSamstag, 18. Februar 2012, 867. DepescheSOUNDTRACK DES TAGES NOTIZ Die aktuelle StN-Kolumne von diesem Samstag ("Der Zopf") findet man in der Depesche vom 17. Februar, die nächsten Flaneursalon-Veranstaltungen gibt es per Klick auf TERMINE. S-21-DEMO "THE DAY AFTER" Aus der offiziellen Erklärung der Veranstalter: "Das Aktionsbündnis lehnt entschieden jegliche Form von Gewalt und Sachbeschädigung ab. Genauso entschieden wehren wir uns dagegen, wenn versucht wird, das Fehlverhalten einzelner zu nutzen, um eine der friedlichsten Bürgerprotest-Bewegungen Deutschlands zu diskreditieren.“ Hier der Text meiner Rede bei der Kundgebung "The Day After" gegen Stuttgart 21 am Samstag, 18. Februar, auf dem Schlossplatz: Guten Tagen, meine Damen und Herren, Willkommen auf dem Schlossplatz, demnächst jährt sich die angeblich historische Landtagswahl vom März 2011. Am Tag nach diesem Akt der Hoffnung habe ich bei der Montagsdemon am Bahnhof eine Rede gehalten. Vom Sieg der Grün-Roten etwas verunsichert, habe ich gesagt: Wenn man in der Regierung Figuren austauscht, ändert man nicht unbedingt das Prinzip der Macht und die Verhältnisse. Diesen Beitrag habe ich nicht mit dem Motto „Oben bleiben“ beendet, sondern Sie, die S-21-Gegner, etwas hilflos aufgefordert: Bleiben Sie auf der Straße! Die Straße ist das neue und wahre Forum der Demokratie – und nicht die Wahlkabine. Ich glaube, dieser Satz gilt noch. So wahr wie Sisyphus nie müde wurde. Was Politiker in den Ministerien unter Demokratie verstehen, kann man hier in der Nachbarschaft erleben. Zu meiner Rechten, wo sonst, ist das Finanzministerium. Dort wandelt ein Minister namens Schmieeed als sozialdemokratisches Junior-Gespenst durchs Neue Schloss und passt auf, dass er problemlos an den Marionetten-Fäden der roten Betonköpfe im Gruselkabinett zappelt. Meine Damen und Herren, kurz nach der Landtagswahl war klar: Es ist Herrn Schmids Partner auf Augenhöhe, der grüne Ministerpräsident, der das Motto „Oben bleiben“ bestens verinnerlicht hat: Inzwischen bedeutet ihm „Oben bleiben“, sich in Schmiedels und Drexlers Namen an der Macht zu halten. Da höre ich den Schlachtruf, den der Herr Landesvater einst so ähnlich als Landjunge bei den Linken gelernt haben muss: Vorwärts - und alles vergessen. Vor allem, dass ihr mich gewählt habt. Meine Damen und Herren, wir haben uns heute versammelt in einer Atmosphäre, die man als „The Day After“, als „Den Tag danach“ kennt. Die Deutsche Bahn und ihre Dienstboten im politischen Servicewagen haben diese Woche mit einer Polizeiarmee den Schlossgarten besetzt, um den Park so umzugestalten, wie wir Stadtlandschaften aus apokalyptischen Filmen kennen. Und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn S-21-Befürworter jetzt im Netz die Glücksbotschaften verbreiten, sie hätten ihren Park zurück bekommen. Wünschen wir ihnen erregende Wellness-Events auf ihrem abgeholzten Acker am Strand vor dem Grundwassermanagement. Meine Damen und Herren, in Kürze werden die Nachmittagsspiele der Bundesliga angepfiffen, und der Blick in einen ehrbaren Fanblock erinnert mich stets an die Art und Weise, wie die Grünen mit ihren Wählern umgesprungen sind. In manchen Clubs werden die wahren, die engagierten Fußballfans heute nur noch als Stimmungsmacher, als notwendiges Übel geduldet. So ähnlich haben die grünen Strategen anscheinend die Bewegung gegen Stuttgart 21 gesehen: das Engagement der kritischen und aufgeklärten Bürger, die endlich und womöglich auch zu spät aufgewacht waren, diente ihnen als folkloristische Begleitmusik beim Wählerfang. Inzwischen teilt der Ministerpräsident bei jeder Gelegenheit mit, wie sehr er leidet, wie groß sein Schmerz sei angesichts der Sachzwänge. Wie groß die moralische Verantwortung sei angesichts seiner demokratischen Pflicht. Mit diesem Pathos versucht er, sein Jammern auf eine philosophische Ebene zu heben. Wünschen wir ihm gute Besserung in seinem kranken Haus der Macht, man kennt es auch als Villa Reitzenstein. Selbstverständlich taucht auch in der Bürgerbewegung immer öfter die Frage auf, wozu man nach wie vor protestieren und demonstrieren solle. Wo man doch nichts mehr bewirken könne, wenn die Politiker im Rathaus und in der Landesregierung sowieso machen, was sie wollen. Darauf kann man nur antworten: Gerade deshalb protestieren wir. Mehr denn je ist die Straße die Bühne der Demokratie, das Forum der Mitsprache und des Widerstands, zumal es im Landtag keine Opposition gibt, nicht mal wie sonst üblich eine taktische oder vorgetäuschte. Ich glaube, die Bürgerinnen und Bürger, die weiterhin bereit sind, bei Wind und Wetter auf die Straße zu gehen, ahnen oder wissen es inzwischen: Bei Stuttgart 21 geht es bestenfalls am Rande um einen Bahnhof, um Gleise oder gar um Stadtentwicklung. In Wahrheit geht es um Immobilien, um Macht und Geld. Warum Stuttgart kein Verkehrsprojekt ist, warum Stuttgart das Symbol, das Lehrstück für das globale Finanzsystem und den Zugriff auf eine ganze Stadt ist, das hat man uns diese Woche wieder vorgeführt. Offenbar sind Stuttgart und Umgebung geradezu ein Paradies für Immobilienhaie. Weil die LBBW-Bank zu viel Geld beim Zocken vernichtet hatte, musste sie auf EU-Geheiß für mehr als 14, Milliarden Euro 21 500 Wohnungen verkaufen, darunter 3800 Wohnungen in Stuttgart. In diesen 21 500 Wohnungen leben 60 000 Menschen. Der Versuch allerdings, diesen Deal halbwegs fair im Sinne eines Sozialstaats zu regeln, nämlich die Mieter vor den Spekulanten zu schützen, ist kläglich gescheitert. Ein städtisches Konsortium wurde überboten von der Augsburger Immobilienfirma Patrizia AG. Über dieses Unternehmen schreibt die „Süddeutsche Zeitung“: Aufhorchen lasse, dass bei dieser Firma, ich zitiere: „an zentraler Stelle ein Manager mitwirkt, der einst für den US-Investor Fortress den Kauf der Immobilienfirma Gagfah einfädelte. Gagfah übernahm zum Beispiel vor fünf Jahren alle Wohnungen der Stadt Dresden. Und investierte dann in Dresden und anderen Städten halb so viel in seine Wohnungen wie Vermieter im Branchendurchschnitt. Das Ergebnis: Mieter klagen über Schimmel, kaputte Heizungen und Löcher in den Türen. Besser ging es Gagfah-Haupteigner Fortress: 2009 kassierte der Investor, für dessen Spezies Franz Müntefering einst den Begriff Heuschrecke prägte, eine hohe Dividende – obwohl Gagfah Verluste schrieb. Als die Stadt Dresden die Immobilienfirma verklagte, drohte ihr der erwähnte heutige Patrizia-Manager ein ,Blutbad‘ an.“ Für den Ausverkauf der Wohnungen, für den Angriff auf den sozialen Frieden haben die Grünen und die Roten ihren Koalitionsvertrag gebrochen. Nach ihrem erbärmlichen Monopoly-Spiel haben sie sich in aller Scheinheiligkeit bemüht, den Leuten zu erzählen, bei den Augsburgern handle es sich nicht um Heuschrecken. Nein, sagte unser Spezialdemokrat Schmiedel, das sind seriöse Geschäftsleute, die wollen nur ein bisschen Rendite machen. Vorerst mal 4 Prozent – die Miete in Deutschland steigt aber jährlich nur um 1,2 Prozent. Auch Herr Kretschmann hat sofort abgewiegelt - und Herr Schmid den Deal selbstverständlich gut geheißen. Komme jetzt bloß keiner auf die Idee, der wahre Hauptsitz des internationalen Immobiliengeschäfts befinde sich auf Europas Landkarte etwas weiter südlich als Augsburg. Betrachten man sich den Landesbank-Deal und die Machenschaften um Stuttgart 21, dann fällt etwas auf: In dieser Stadt ist eine Menge zu holen, wenn man die richtigen Leute kennt und die entsprechenden Lobbyisten hat. Die Lebensqualität der Bürger spielt bei diesem Zugriff von außen keine Rolle. Und in diesem Zusammenhang sollten wir endlich begreifen, was die Herrschaften in Wahrheit meinen, wenn sie bis zum Erbrechen von der Zukunft reden. - Zukunft ist nur ein anderes Wort für Markt und Wachstum. Profite beim Spiel werden logischerweise immer erst in der Zukunft eingefahren. Bei jeder Börsen-Zockerei, bei jeder Wette, bei jedem Klick an der Geldmaschine heißt das Zauberwort Zukunft. Wenn von Fortschritt die Rede ist, geht es nicht um bessere Bedingungen für das Leben der Bürger von morgen. Es geht um Profitmaximierung. Diese Situation mitten in der Euro-Krise ist bei Gott kein Stuttgarter Problem. Stuttgart 21 allerdings wird leider zu oft als Privatkonflikt in der Provinz und nicht als Lehrbeispiel für das internationale Finanzgebaren und die Raubzüge der Spekulanten betrachtet. Keine Frage, meine Damen und Herren, es ist ein Frevel, wenn uralte Bäume gefällt und der denkmalgeschützte Südflügel des Bonatz-Baus zerstört werden. Vielleicht aber müssen sich die Menschen im Zentrum dieser Barbarei intensiver mit den wirtschaftlichen und politischen Hintergründen als bloß mit den sichtbaren Fakten beschäftigen. Und sich endlich mit anderen Protest-Aktionen wie Occupy vernetzen. Vergangene Woche erst marschierten 5000 Menschen durch diese Stadt, durchweg junge Menschen, die gegen die undemokratischen EU-Eingriffe im Fall Acta protestieren. Wo sind diese jungen Menschen heute? Die Reaktion von Grün und Rot auf den anhaltenden Protest gegen S 21 kennen wir inzwischen doch auswendig: Wer nach der Volksabstimmung noch gegen die herrschende Politik protestiert, gilt entweder als schlechter Verlierer oder als kriminell. Ohne Protest aber würden in Zukunft weit weniger politische Machenschaften als bisher aufgedeckt, auch der Murks bei der S-21-Planung bliebe im Dunkeln, wäre leichter zu vertuschen als in der Vergangenheit. - Das Ziel des Protests in dieser Stadt muss nicht sein, permanent Alternativen und Lösungen zu bieten. Protest ist auch dafür da, die herrschende Politik in Frage zu stellen, vor allem wenn es keine Opposition in den Parlamenten gibt. Deshalb muss sich die Bewegung, die ja nach vor quicklebendig ist, auch die Frage stellen, wie sie es mit der Oberbürgermeisterwahl hält. Ob sie nicht selbst aktiv wird. Vielleicht hat man aus der Landtagswahl gelernt. Meine Damen und Herren, kein Mensch weiß, ob Sisyphus glücklich war, wenn der Stein, den er pausenlos den Berg hinauf gerollt hat, jedes Mal zurückkam. Ganz sicher aber ist: Arbeitslos war er nie, er hatte viel zu tun. In diesem Sinne: Bleiben Sie auf den Straßen von Stuttgart. Vielen Dank. 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