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Freitag, 28. Oktober 2011, 807. Depesche



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LETZTE KARTEN FÜR FLANEURSALON IN DER KIRCHE

Der Vorverkauf im Internet für unseren Flaneursalon an diesem Sonntag (19 Uhr) in der Andreaskirche zu Obertürkheim wird gestoppt. Es gibt noch ein Kontigent Karten an der Abendkasse.



SERIENTÄTER

Es ist wieder Zeit für einen Gastbeitrag. Der in Stuttgart lebende Schriftsteller Heinrich Steinfest ("Die Haischwimmerin") macht für die Monatszeitung "einundzwanzig" eine Serie, für die ich als eine Art Charge assistiere. Das heißt: Wir besuchen zusammen einen Ort, und Heinrich schreibt darüber. Wir waren im Bad Berg ("Schwimmen mit Joe"), in der Uhu-Bar ("Kleben mit Joe"), auf dem Waldfriedhof ("Liegen mit Joe") - und wollten zuletzt eigentlich am Neckar laufen/joggen. Weil sich aber der Schriftsteller eine ausgewachsene Erkältung holte, disponierten wir für die neue Ausgabe der Zeitung kurzfristig um - und gingen in die Kirche St. Elisabeth am Bismarckplatz:



PAUSIEREN MIT JOE

ODER KONTEMPLATION IN DER KIRCHE

Von Heinrich Steinfest



Darf man in einer Kirche lachen? Als Joe Bauer und ich im Mittelgang der Kirche St. Elisabeth die für unsere Serie obligatorische Duellposition einnehmen, drängt sich uns fast gleichzeitig die Frage nach dem Erlaubtsein des Lachens in einem sakralen Raum auf. Ebenso rasch jedoch schiebt sich vor diese Frage eine andere, viel wesentlichere, die nach der – wie Joe Bauer das ausdrückt – „Lachzwangneurose“ unserer Tage, diesem ständigen Bedürfnis, alles und jedes mit einem Witz auszustatten und ein Gelächter zu provozieren. Spaß ist zu wenig, nein, ein Kalauer muss her, saftig und fett und breitbeinig. Auch am helllichten Tag eine Late-Night-

Show. Jede Sekunde ein Harald Schmidt. Kaum ein Vortragender, der sich nicht verpflichtet fühlt, Volten einzubauen, die zu einer kollektiven Schenkelklopferei führen. Der Schenkel ist der Lachmuskel unserer Zeit. Alles ist Kabarett. Wer nicht lacht, dass die Wände zittern, ist ein Versager, gilt als verbittert, ja als ideologisch

verbrämt. – Entweder als verbittert religiös oder verbittert linkslastig. Wir erleben die massive Lustigkeit einer den Kometen erwartenden Gesellschaft.

Und genau darum ist es ein Glück zu nennen, wenn Orte existieren, an denen wir vom Lachen eine Pause nehmen können, auch vom lauten Wort, von der raschen Bewegung, eigentlich eine Pause von einem Leben, das erstaunlicherweise als umsoerfolgreicher gilt, umso chaotischer es daherkommt. Wir betreten einen Raum und senken unsere Stimme, weil eben die Stimme dank der speziellen Akustik zu überdeutlicher Größe anschwillt. Der Hall ist wie ein Spiegel, der uns zur Mäßigung aufruft. Das ist das Gute an einem sakralen Ort: wie sehr er den Menschen animiert, eine Würde zu entwickeln, derer dieser ja durchaus fähig ist. Eine Würde im Stehen, im Sitzen, im Schweigen. Und wenn man redet, dann sachte, und wenn man lacht, nicht wie ein Berserker. Unsere Stimme, unsere Bewegungen entwickeln in diesem Moment etwas Fürsorgliches, wie dies einem manchmal gelingt, wenn man ein Kind tröstet oder sich vor ein verschüchtertes Tier hinkniet. Man muss den Humor nicht verpönen, um mal auf eine enervierende Lacherei verzichten zu können.

Die Kirche St. Elisabeth nun – erbaut von Joseph Cades (1855-1943), dem wir auch die Liebfrauenkirche in Cannstatt verdanken – ist Teil eines gewachsenen Gesamtkunstwerkes, welches Bismarckplatz heißt. Für ein katholisches Gotteshausherrscht hier eine auffällige Nüchternheit und Übersichtlichkeit. Der kompakte Charakter des Äußeren findet im Inneren seine gelockerte Entsprechung. Sämtliche

Objekte – der die brennenden Kerzen tragende metallene Dornbusch, der wuchtige steinerne Altar, die Kreuzwegbilder Gebhard Fugels, selbst noch der Blumenschmuck, nicht zuletzt der betende Mensch – verfügen über den nötigen Freiraum, um zu atmen und sich entfalten zu können. Das mag manchmal karg wirken, dennoch niemals streng. Dieser Raum ruft nicht zur Niedergeschlagenheit auf, sehr wohl aber zur Konzentration. Freilich braucht man nicht gleich ein Schweigegelübde abgeben. Man kann sich in einer Kirche auch unterhalten, umso mehr, als jene Menschen, mit denen man hier zusammenkommt, die Güte besitzen, ihre Handys auszuschalten und auf diese Weise ihrem Gesprächspartner in seltener Ausschließlichkeit begegnen können. Wo hat man das sonst noch? Stimmt, im Flugzeug beim Starten und Landen, aber die Gespräche, die dabei entstehen, sind nach meiner Erfahrung wenig erbaulich.

Aus dem quirligen Mosaik des Alltags in dieses Gewölbe gelangt, komme ich mit Joe Bauer auf einer langen Bank zu sitzen, über uns eine Anordnung von Heiligen. Wir reden über den Tod. Denn immerhin fällt unser Blick hinüber auf den ans Kreuz geschlagenen Christus, der hier deutlich leidend die Höhe dominiert. Kein schöner Christus, gräulich, expressiv, schmerzerfüllt, fern von der Vorstellung einer heroischen Auferstehung. Joe fragt sich: „Ist man tatsächlich so ein Atheist, wie man denkt?“ Das fragen sich Atheisten gerne. Nicht wenige von ihnen sind Zweifler, und nicht wenige von ihnen stehen in häufigem Dialog mit einem Gott, dessen Existenz ihnen bedenklich erscheint. – Man verzeihe mir, dass ich das sage, aber ich glaube, der Herr im Himmel hat mitunter mehr Freude an diesen Zweiflern, die sich ihm

skeptisch, aber eindringlich nähern (denn Gott sehnt sich nach den Menschen, nach dem Gespräch, der Diskussion, ja er selbst ist möglicherweise ein beredter Zweifler), als an denen, die zwar brav den konfessionellen Konventionen folgen, ihm gegenüber aber eine Art von Sicherheitsabstand wahren. (Darunter nicht selten politische

Parteien.)

Direkt über unseren Häuptern, als kleine hölzerne Plastiken von der Wand stehend, befinden sich die Darstellungen der Gertrud von Helfta und der Elisabeth von Thüringen. Der Zweiteren verdankt diese Kirche (wie etwa auch die, in deren Nähe ich meine Wiener Kindheit verbracht habe, sodass sich für mich in der Spätmitte meines Lebens ein Kreis schließt) ihren Namen: Elisabeth. Diese 1231 vierundzwanzigjährig in Marburg an der Lahn verstorbene Landgräfin ist eine höchst bemerkenswerte Figur der Kirchengeschichte. Im Grunde eine dieser Personen, deren Namen – wie im Falle des besagten Christus – man gerne in den Mund nimmt, nicht aber deren Taten ernst. Mag ja sein, dass Elisabeths gewisser Hang zur Selbstzüchtigung vor allem in Kombination mit dem Bestrafungsethos ihres Beichtvaters Konrad von Marburg ihren masochistischen Bedürfnissen diente, doch

Elisabeths radikales Armutsideal, ihre schnörkellose Frömmigkeit, ihr Engagement für die Ärmsten, die Aussätzigen, die Missgebildeten, die ohne jede Fürsorge dastehenden Kinder, ist bewundernswert. Bewundernswert, weil Elisabeth die kompromisslose Umsetzung einer gelebten Nächstenliebe praktizierte. Im Gegensatz zu jener wohlkalkulierten, um mit heutigen Worten zu sagen telegenen

Großzügigkeit, einer karitativen Ornamentik, die den eigenen Wohlstand in keiner Weise tangiert, ja, das eigene gesellschaftliche Auserwähltsein noch um die „gute Tat“ ergänzt. So, wie wir das vom heutigen Stiftungs- und Charitytheater bestens kennen. Elisabeths Mission führte sie folgerichtig zu einem radikalen Verzicht: einer

Selbstenteignung in jeder, nicht nur in materieller, sondern auch intellektueller Hinsicht (wir müssen das nicht alles genau so nachleben, aber ein wenig davon wäre nicht schlecht, ein bisserl weniger Gescheitsein, ein bisserl weniger Überheblichkeit,

ein bisserl weniger elaborierter Zynismus). In völliger Abkehr vom Privileg ihres Standes, verbrachte sie ihre letzten Jahre als einfache Spitalschwester, um sich vor allem den Leprakranken zu widmen.

Dazu passt recht gut ein Elisabeth zugeschriebenes Wunder: das Kruzifix-Wunder.

Elisabeths Ehemann, Ludwig von Thüringen, war von seiner Mutter das Gerücht zugetragen worden, Elisabeth hätte im ehelichen Schlafgemach einen zu pflegenden Leprakranken untergebracht. Ludwig, ansonst recht zugänglich für die tugendhaften Handlungen seiner Gemahlin, suchte daraufhin sofort (man darf annehmen mit einem Jetzt-reicht‘s-aber-Satz auf den Lippen) die Kammer auf, entdeckte im Bett aber anstatt eines Aussätzigen den gekreuzigten Christus.

Worauf es nach meiner Meinung nun ankommt, ist hier nicht die Frage nach der Plausibilität solcher Wunder (die man auf die gleiche Weise in Frage stellen kann wie etwa Mondlandungen), sondern es geht um das Bild an sich. Das Wunder besteht nämlich durch Elisabeth selbst, immerhin eine ungarische Königstochter, die sich ja

in der Tat völlig angst- und selbstlos der Pflege der „Ausgesetzten“ widmete, sich diesen hingab, ihnen so nahe war, wie eben jemand, den man zu sich ins Bett lässt. Das Wunder besteht in der Verwandlung Elisabeths. Das Wunder der Verwandlung des Leprakranken hingegen ist nur eine logische Folge. Wenn wir also von „Wundern“ sprechen, dann handelt es sich um Läuterungen, um maßgebliche Einsichten und Bekehrungen. Dass freilich ganze Völker und Bevölkerungen sich wundersam läutern, ist kaum anzunehmen. Das Wunder tendiert bei aller Dramatik zum kleinen Format. Das macht es aber nicht geringer, oder? Man stelle sich einen Ministerpräsidenten vor, der ein unmögliches Referendum zum Anlass nimmt, das Schicksal der eigenen Person daran zu knüpfen, ob das Wunder geschieht. Ich meine, wenn man dieses Wort schon in den Mund nimmt.

Als wir uns von der Bank erheben, meint Joe Bauer eingedenk der Schönheit des Daseins (und wenn einer wie er ein Kritiker ist, dann wegen der Angreifbarkeit und des ständigen Angegriffenwerdens dieser Schönheit): „Der liebe Gott muss ein guter Mann sein.“

Vorbei an der Riemenschneider-Kopie der heiligen Elisabeth, die einen der Vierungspfeiler der Basilika schmückt, das mittlere Schiff durchlaufend, den eigenen Schritt mäßigend – sanft, weil besänftigt –, treten wir aus der Kirche. Draußen ist die Sonne. Auch nicht schlecht.



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