Bauers Depeschen


Samstag, 31. Juli 2010, 551. Depesche



(Bitte TERMINE beachten und flugs zum Kartenververkäufer rennen)



EXTRA-MELDUNG



ACHTUNG: Am Stuttgarter Hauptbahnhof sind am Freitagabend ein großes Polizeiaufgebot und Bagger der Baufirma Wolff & Müller aufgefahren. Der Bonatz-Bau wurde weitgehend gesperrt, Arbeiter stellten Bauzäune auf. Stuttgart-21-Gegner lösten via Mobiltelefon und Mails Alarm aus und besetzten Straßenkreuzungen und Plätze rund um den Hauptbahnhof sowie am Schlossgarten. Polizei, auch berittene, war nach dem BUNDESWEHR-GELÖBNIS am Nachmittag ohnehin genug in der Stadt. Klare Strategie. Der Protest dauerte an bzw. ging erst richtig los, als diese Zeilen gegen Mitternacht getippt wurden. Offenbar soll mit dem Abriss des Nordflügels begonnen werden, die Firma Wolff & Müller ist damit beauftragt. Womöglich sind auch Bäume im Park in Gefahr. Genaueres heute in den StN. SOUNDTRACK ZUR NACHT

HEUTE, Samstag, und morgen, Sonntag, sind vor dem neuen Bauzahn Demonstrationen geplant, Beginn 19 Uhr.



Und noch die kleine StN-Samstagskolumne

DER KERN DER SACHE



Ich bin ein Outdoor-Typ, entnahm ich der Gebrauchsanweisung meiner läppischen neuen Regenjacke, und ich war auf dem Outdoor-Weg zum Charlottenplatz. Mit der Linie 15 wollte ich in den Osten bis zur Haltestelle Heidehofstraße vorstoßen. Dann blieb ich am Schaufenster vom Seifen-Lenz am Rand des Bohnenviertels hängen.

Der Lenz ist 225 Jahre alt, er hat ein Stück Kernseife neben einer Seifenschneidemaschine im Fenster stehen, groß wie ein Schulranzen, sieht aus wie die zerkratzte Marmorplatte eines Tanzcafés. Daneben steht ein Schild: „Kernseifenstücke vom letzten Sud, gesotten vom letzten Seifensieder-Obermeister Anno Domini 1956“.

Anno Domini 1956 war ich zwei Jahre alt und wurde, ich erinnere mich gut, mit einem Stück Kernseife fürs Leben zurechtgeschrubbt. Wohl deshalb, denke ich, bin ich kein besonders zartes Stück Mensch geworden. Nur der Kern ist weich.

Beim Blick auf die Lenz-Dekoration in der Esslinger Straße gefiel mir das Wort Seifensieder. Seifensieder war mal ein Schimpfwort, wie Schiffschaukelbremser oder Scherenschleifer. Der Begriff Scherenschleifer wird heute nur noch in der Altstadt von Seniorluden als Beleidigung gebraucht. Bedeutet Taugenichts und ist kaum ehrenvoller als Halbdackel.

Der Seifensieder hingegen ist zu meinem Bedauern in Vergessenheit geraten. Viele Leute, die sich heute Soap-Operas hingeben, ob im Fernsehen oder im Musical, wissen nicht, was sie dem Seifensieder verdanken. Sie glauben, die Seifenoper heiße so, weil sie glitschig und pomadig ist wie „Grease“ (Schmiere), der Film mit John Travolta. Dabei nennt man sie Seifenoper, weil das Genre im frühen 20. Jahrhundert von Amerikas Waschmittelindustrie gesponsert wurde. Schon damals kämpften die Industriebosse ums Image wie heute unser Oberbürgermeister. Das Showgeschäft, dachte man, wird den Seifensieder aufwerten. Heute aber ist nicht der Seifensieder, sondern die Kernseife Kult.

Wer vor dem Seifen-Lenz steht, erkennt sogleich: Der Seifensieder ist unterschätzt. Womöglich ist er ein Alchemist, einer, der mit etwas Fettsäure Schweine in Menschen verwandelt. Leider erfuhr der Seifensieder in seinem Bemühen um Reinlichkeit wenig Resonanz. Deutsche Seifenoper-Helden beispielsweise kann man in einen Zuber reinster Kernseifenlauge stecken. Wenig später stinken sie wieder nach Schmiere.

Ich bin dann doch noch in die U-Bahn gestiegen, allerdings mit dem Vorbehalt, beim Lenz so bald wie möglich Kernseife zu kaufen, ferner einige Exemplare seiner wunderschön verpackten Sunlicht-Seifen.

Dann ging’s hinauf zur Heidehofstraße. In der Sitzreihe gegenüber roch es nicht gerade nach geruchloser Kernseife, ich beobachtete einige laute Jungs, konnte sie aber nicht einschätzen. War früher Gefahr im Verzug, prüfte ich zuerst die Nase meines Gegenübers. War sie platt, wusste ich, dass er ein Boxer und es besser war, die Klappe zu halten. Allerdings fuhren solche Jungs nicht Straßenbahn, sondern Porsche Cabrio auf der Flucht vor der Schmier.

Heute gibt es viele Kampfsportarten, die man nicht mehr am gebrochenen Nasenbein erkennen kann. Trotzdem würde ich gern mal testen, was passiert, wenn ich einem der Juniorluden ins Gesicht sage: Was guckst du, Seifensieder?

Was erzähle ich da. Eigentlich wollte ich berichten, wie ich von der Heidehofstraße auf die Uhlandshöhe gestiefelt bin. Mache ich ein andermal. Vorher muss ich noch zum Lenz. Neben dem Kernseifen-Arrangement stehen prächtige Wachsskulpturen. Sie beweisen, dass der alte Seifen-Lenz auch das Kerngeschäft der Zukunft kennt. Die Lichter heißen „Outdoor Kerzen“. Von großem Vorteil sind sie auf dem Friedhof.



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