Bauers Depeschen


Donnerstag, 19. August 2010, 562. Depesche



NICHT VERGESSEN: Flaneursalon am Dienstag, 14. September, im Schlesinger. 20 Uhr.



EXTRA MELDUNG, 00.00 Uhr

Großes Aufgebot am Bahnhof. Polizei, Demonstranten. Ich war kurz dort. Bagger fuhr vor. Man bereitet den Abriss des Nordflügels vor.

Und hier noch die Kolumne vom Donnerstag (inzwischen auch StN-online mit ersten Kommentaren):



SANFT NEIGT SICH DER TURM

Morgens auf dem Weg nach Feuerbach stieg ich am Bahnhof in die Stadtbahn. Feuerbach wäre heute, wo viel gekämpft wird in der Stadt, ein guter Name für das zerrissene Stuttgart. Vor dem Zelt der Stuttgart-21-Gegner am Nordausgang spielte eine Geigerin vom Blatt. Womöglich, dachte ich, ist die Violine das Instrument der Rebellion. Die handlichere Flöte haben die Rattenfänger in Beschlag.

Unterwegs las ich in einer Münchner Zeitung die nicht mehr ganz frische Meldung, „ausgerechnet auf Deutschlands derzeit bestbeobachteter Baustelle“ habe man Schwarzarbeit und ähnliche Betrügereien aufgedeckt. Die Formulierung „bestbeobachtete Baustelle“ gefällt mir, sie vermittelt etwas Komisches, Kurioses, Paradoxes: Stuttgart, Deutschlands meistverspottete Autostadt, schafft es ausgerechnet dank seines Bahnhofs seit Wochen täglich in die Schlagzeilen und ins Fernsehen. Endlich erfüllt sich, was sich der Wiener Bildhauer Alfred Hrdlicka wünschte, als ich ihn vor vielen Jahren zu Stuttgarts Image befragte: „Der Stadt fehlt ein handfester Skandal!“

Ich glaube, nicht einmal der VfB wird es schaffen, mit der beginnenden Bundesligasaison das dauerhafte Bild von Stuttgarts Tieferlegung zu verdrängen. Beim ersten Gegentor werden Sportreporter die Löcher einer Großbaustelle erkennen, und spätestens dann wird bei den „Schwaben“ auch der arme Tasci getunnelt.

Das Ansehen des Stuttgarters an sich hat sich frappierend gewandelt. Konnte man bisher bei der Erwähnung von Stuttgart mit viel Geschick gelegentlich das Thema Kehrwoche mit einer Anspielung auf Daimler und Porsche überspielen, so gilt inzwischen nur noch eins: Wir sind, „ausgerechnet in der beschaulichen Schwabenmetropole“ (Pressetenor), die Typen von der Baustelle. Egal wo das Wort Stuttgart fällt: Alle verstehen nur noch Bahnhof.

Das ist eine süße Pointe in der Entwicklung einer Stadt, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs alles getan hat, um als Autostadt Furcht und Schrecken zu verbreiten. Erst kürzlich konnte man im „Berliner Tagesspiegel“ lesen: „Sie haben die Ruinen und das, was von der alten Stadt noch intakt war, weggeräumt wie eine unangenehme Erinnerung und gesichtslose Architektur hingestellt . . . Sie haben vierspurige Autoschneisen durch die Stadt geführt.“

Der Kampf um die Zukunft aber findet nicht etwa auf Stadtautobahnen wie der Konrad-Adenauer-Straße statt. Der Kampf geht vor den Eisenbahngleisen über die Bühne. Der Bahnhof ist ein symbolischer Ort. In der politischen Filmparabel „High Noon“ trifft Gary Cooper als Marshall Kane am Bahnhof auf Frank Millers Gangsterbande. Bei uns begegnen sich die Feinde zwar selten zwölf Uhr mittags. Dafür immer sechs Uhr montags.

Noch ist nicht klar, welche Rolle der Stuttgarter im S-21-Theater der Medien künftig spielen wird. Bisher sind wir mal die mit Sympathie begleiteten „Schwabenrebellen“ aus der Provinz, mal die Hinterwäldler mit Angst vor „Erneuerung“.

Auch dies eine denkwürdige Geschichte für eine Stadt, die früher Gleise für ein Unglück hielt. Selbst die Straßenbahn hat man jahrzehntelang mies gemacht, auch in der Stuttgarter Presse. Noch in den sechziger Jahren verteufelte man die Züge als „Gelbe Gefahr“. Der Verkehr auf Schienen galt als Übel. 1972 schimpfte der AutoRedakteur der Stuttgarter Nachrichten: „Ein durcheinander geratener Fahrplan, überfüllte Wagen, an den Haltestellen Menschen im gießenden Regen, in den Wagen Leute mit nassen Mänteln, gedrängt wie Heringe in Tomatensoße.“

Jahrzehnte später suchen und finden Tausende Stuttgarter ihre Identität ausgerechnet an den Gleisen. Am Bahnhof, an „Deutschlands bestbeobachteter Baustelle“. Diese Formulierung wählte die „Süddeutsche Zeitung“. Dasselbe Blatt veröffentlichte am Mittwoch einen langen Aufsatz über drohende „geologische Katastrophen“ des S-21-Projekts. Es geht um den Boden, um die Sprengkraft von Anhydrit. Der große Stuttgarter Baumeister Frei Otto, ist darin zu lesen, könne sich vorstellen, dass sich aufgrund des Umgangs mit dem Grundwasser und dem zum Abriss verurteilten Südflügel der Bahnhofsturm irgendwann „sanft zur Seite neigt“.

Weniger sanft könnte die Stadt neben gutem Mineralwasser auch ihr biederes Image verlieren. Tut sich nämlich irgendwo in der Welt ein Bauloch auf, sind Rattenfänger und korrupte Politiker, Mafia-Gangster und Straßenhuren nicht weit.

Die Anfänge sind gemacht. Es wird lustig in der Stadt. Willkommen im Club!

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