Bauers DepeschenDienstag, 09. Juni 2009, 338. DepescheBETR.: ASIA VERSUCH ÜBER DIE FRESSBOX Wenn das Leben wie eine Schachtel Pralinen ist, wie Forrest Gump sagt, dann muss Essen aus der Pappschachtel nicht das Ende sein. Bei den folgenden Zeilen handelt es sich um eine Auftragsarbeit. Ich esse nicht gewohnheitsmäßig aus Pappschachteln. Ich wähle bei der Aufnahme heiß zubereiteter Nahrung meist einen mehrfach verwendbaren, spültauglichen Behälter und achte seit der Lektüre von Hans Falladas Roman "Wer einmal aus dem Blechnapf frisst" auch auf Material und Umgebung. Das Wahrzeichen eines zeitgenössischen Einkaufszentrums in Städten ist der fernöstliche Imbiss mit Essen aus Pappschachteln. Eine dieser Einrichtungen gibt es im Königsbau am Schlossplatz. Das Geschäft firmiert als Asia Fast Food Restaurant. Die Kombination der Begriffe Fast Food und Restaurant halte ich für einen Widerspruch in sich. Dies sage ich im Bewusstsein meiner schlechten kulinarischen Bildung. Der Kochwahn in den Medien und unter Intellektuellen geht mir auf den Wecker. Ich glaube auch nicht an die Prophezeiung, die kulturellen Darstellungsformen der Zukunft reduzierten sich auf das Repertoire FKK: Fressen, Klamotten, Kunst. Im Kampf um ihre Küche bleiben gute Köche weiterhin auf Rock'n'Roll. Aus Pappschachteln essen, sagt man, sei cool. Im Internet stieß ich auf die Vorlieben einer in Rheinland-Pfalz tätigen Radiomoderatorin mit dem schönen Namen Rebecca Mellone: "Schlafen, Kunst, Bahnhöfe und Flughäfen, Radio, Tage am Meer, Kino, mich mit Horrorfilmen selbst zu Tode thrillen, Menschen mit Meinung, Helmut Schmidt, Irland, verliebt sein, pinke iPods, Marcs & Spencer, Placebo live, Essen aus Pappkartons." Diese Homepage-Eintragung ersetzt eigentlich jede theoretische Auseinandersetzung mit dem Phänomen Essen aus Schachteln. Was mir beim Versuch über die Fressbox fehlte, war die Praxis. Ich habe oft im Leben aus Kartons gevespert, kann mich aber heute kaum daran erinnern. Selbst von den pappunterlegten, auf gute Ketchup-Soße gebetteten Currywürsten blieben mir nur wenige im Gedächtnis. Das hat seinen Grund: Die Currywurst kommt erst im bewusstseinserweiterten Zustand zur vollen psychedelischen Entfaltung. Morgens um halb zehn, als der Imbiss von fünf vietnamesischen Arbeitskräften startklar gemacht wurde, verhandelte ich über eine Pappschachtel. Ich erhielt für 20 Cent ein Exemplar der berühmten Chinese Take Out Box, und zwar leer. Es ging mir darum, das Objekt chinesischer Faltkunst unbeschmutzt unter die Lupe zu nehmen. Pappe an sich ist nicht ehrenrührig. Auch handgenähte Schuhe, eine Rolex oder ein Meerschwein kauft man in Pappe zum Mitnehmen. Der von einem Draht zusammengehaltene Glücksbecher aus Asien (Fold Pack) ist acht Zentimeter tief, der Durchmesser am Ausgang ähnlich groß. Die weiße Zauberbox mit roten Tempelmotiven verfügt über Klappen: Der Napf hat einen Deckel. An den Kartonwänden liest man Enjoy (genieße) und Thank you (vergelt's Gott). Die Take-out-Box, das Fresspaket zum Mitnehmen, ist hierzulande mit amerikanischen Filmen berühmt geworden. Ein Bulle sitzt im Wagen und beobachtet einen Hauseingang. Nichts tut sich. Schnitt. Der Gangster kommt aus dem Haus. Der Cop, die Nase über dem Lenkrad, fuhrwerkt inzwischen mit zwei Stäbchen im Hühnerfleisch- und Nudelberg seiner Fresspappe herum. Schnitt. Der Gangster beginnt zu rennen. Schnitt. Fünf, sechs heiße Nudeln fallen dem Bullen über dem Gemächt auf die Hose. Er wischt sie mit den Stäbchen in der Linken weg und schießt mit der Kanone in der Rechten den Gangster zwischen die Augen. Eine so blöde Filmszene gibt es nicht. Und selbst wenn, wäre sie besser als all diese idiotischen Einstellungen mit den Currywurst mampfenden Kommissaren deutscher "Tatort"-Folgen. Mit der lässigen Take-out-Box-Attitüde bei der Nahrungsaufnahme, der existenzialistischen Haltung, sich auf das Wesentliche des Pappsattseins zu konzentrieren, spiegelt sich die humane Größe amerikanischer Kinohelden. Wer aus dem Pappnapf frisst, hat sich für den harten Job zur schnellen Rettung der Welt entschieden. Er ist sich selbst nicht so wichtig, er bringt die Dinge in Ordnung. Wenn er gebraucht wird, interessiert ihn Tafelsilber einen Dreck. Der Hollywoodheld Jackie Chan schöpft regelmäßig Energie aus der Fressbox, und er ist stets biegsam wie eine Al-dente-Nudel. Vor dem Asia-Imbiss im Königsbau stehen die Leute Schlange. Das billigste Gericht, Box-Hühnerfleisch mit Gemüse, kostet 3,90 Euro (Regenbogen California Lachs zu 8,90 Euro gibt es auf Kunststoffplatte mit Deckel). Die Angestellten hinterm Tresen arbeiten flink. Wer von den Kunden viel Zeit hat, sitzt mit Blick auf die Rolltreppe an der Theke zwischen den Schaufenstern eines Schuh- und eines Klamottenladens. Er hat das Handy am Ohr und die Stäbchen im Trichter. Womöglich ist er cool. Vielleicht auch auf Hartz IV. Wie der Schnellproviant aus der Pappschüssel schmeckt, will ich nicht beurteilen. Ich habe etwas Huhn mit Nudeln versucht, die Soße war ausreichend. Was soll's. Es gibt Köche, deren Produkte auch auf Meißner Porzellan versagen. Hätte ich die Wahl beim Gegen-die-Zeit-Fressen, entschiede ich mich für die rote Wurst. Wurst mag uncool sein. Aber man braucht für sie keinen Karton. Man schiebt die Rote zwischen die Hälften eines Brötchens und verschlingt sie samt Brötchen. Zum Kotzen, dass die meisten Brötchen heute wie Pappe schmecken. (© Juni 2009 Stuttgarter Nachrichten) Kolumnen in den Stuttgarter Nachrichten: www.stuttgarter-nachrichten.de/joebauer P. S.: Die Planungen für den Abend zur mentalen Unterstützung der Fans der Stuttgarter Kickers und anderer hoffnungsfroher Fußballmenschen sind weitgehend abgeschlossen. Termin: Samstag, 8. August, Theaterhaus Stuttgart. Beginn: 20 Uhr. Motto: "Hurra, wir kicken noch!". Mit der Großen Rockschau (Ex Kleine Tierschau), Nu Sports, Timo Brunke, Joe Bauer, Ralf Schübel. Moderation: Stefan Kiss (SWR-Fernsehen). Eintritt maximal 9 Euro, so billig wie ein Stehplatz auf der schönen Waldau. Der Vorverkauf beginnt in den nächsten Tagen. www.theaterhaus.com - Kartentelefon: (0711) 4 02 07 20 „Kontakt“ |
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