Bauers Depeschen


Freitag, 26. April 2013, 1096. Depesche

BITTE AUFRUF in der Depesche vom Samstag, 27. April, beachten!  



SALON-NOTIZEN

Nachdem ich am Mittwoch im Wilhelmspalais an der Präsentationsshow von Thomas Geigers Roman "Autoreverse", einer Stuttgarter Rock 'n' Roll-Geschichte, mitgewirkt habe, weise ich heute noch auf ein paar andere Gast-Termine hin: Am 1. Mai steigt das Fest zum zweijährigen Bestehen der Online-Zeitung "kontext" im Theaterhaus. Auf die Bühnen gehen der Kabarettist Florian Schroeder, die Weltmusik-Band Volxtanz - und unsereins als Festredner. Beginn ist um 20 Uhr. - Am Samstag, 4. Mai, bin ich zusammen mit Komikern und Musikern Gast in Roland Baischs Jubiläumsshow "Der Graue Star XXL" im Theaterhaus. - Am Mittwoch, 8. Mai, muss ich wohl bei der Wiedereröffnung des Café Weiß in die Bütt, und am Freitag, 10. Mai, bin ich bei der Lesung im Kino Cinema in der Reihe "10. Mai" dabei; am 10. Mai 1933 verbrannten die Nazis auf dem Berliner Opernplatz die Bücher von Schriftstellern. - Und nicht vergessen unsere ureigenste Angelegenheit: Für den Flanersalon am Freitag, 17. Mai, im Theater Rampe sind inzwischen zwei Drittel der Karten weg. Könnte voll werden.

FLANEURSALON IN DER RAMPE: INFOS UND VORVERKAUF



DAS LIED DES TAGES



Die aktuelle StN-Kolumne:



DIE LEICHTIGKEIT DES FLIESSENDEN VERKEHRS

Die Urbanstraße, der Boulevard des Gerichtsviertels. In der Nähe der Wilhelmspalais, die Staatsgalerie. Es gibt ein paar Kneipen, und die Tradition des schwäbischen Gerichts pflegt der griechische Wirt Nico. Sein Restaurant heißt Zum Becher. Solche Kneipennamen sterben aus.

Im Gerichtsviertel ist nicht viel los, wenn man frei herumläuft. Ich war nicht oft zu Gericht. Einmal habe ich die „Vorführabteilung“ besucht. Als Tourist, nicht als Delinquent. Wer aus dem Knast vorgeführt wird, verweilt bis zu seinem Prozess-Auftritt in einer Zelle mit festgeschraubten Stühlen, festgeschraubtem Tisch – und der Schamecke. In die Schamecke hat man eine Schüssel für die Notdurft gebaut. Eine Zelle mit Schamecke ist ein Wohnklo auf Zeit.

Im Landgericht findet zurzeit ein Prozess gegen fünf Demonstranten statt. Das Urteil wird heute, Freitag, erwartet. Seit den Protesten gegen Stuttgart 21 finden fortwährend Prozesse gegen Demonstranten statt. Regelmäßig fällen die Richter saftige Urteile. Mit meinen bescheidenen Wohnklo-Kenntnissen kann ich mich nicht in die ­höhere Justiz einmischen. Die Justiz in ­diesem Land ist unabhängig. Sie agiert unabhängig von meinen Vorstellungen vom gesunden Menschenverstand.

Unter den fünf angeklagten Demonstranten ist ein fünfzig Jahre alter Mann, dem einundzwanzig Monate Haft ohne Bewährung drohen. Man wirft ihm vor, er habe einen Zivilpolizisten ins Gesicht geschlagen. Der Vorfall bezieht sich auf den 20. Juni 2011. Nach der Montagsdemo am Bahnhof drangen Aktivisten auf die Baustelle mit dem Grundwassermanagement im Schlossgarten vor. Zuvor hatten sie den Bauzaun flachgelegt. Es kam zu einer Rangelei mit einem Zivilbeamten, der sichtbar eine Kanone trug. Der Konflikt war später auf You Tube zu sehen. Das Video dient bis heute leider nicht der vollen Wahrheitsfindung.

Ich erinnere mich, wie nach dieser Montagsdemo bei Facebook die Kommentatoren ausrasteten: Erst galt der Polizist als schwer, dann als lebensgefährlich, schließlich auch als tödlich verletzt.

Auf dem Video war zu sehen, wie der Polizist nach der Rangelei in einem Polizeiauto saß und eine Zigarette rauchte. Gemeldet wurde, dass er nach einer Nacht im Krankenhaus heimging. Angebliche Diagnose: Gehirnerschütterung, Kehlkopfprellung. Den Sachschaden der Aktion bezifferte die Bahn zunächst auf gut eine Million Euro. Zurzeit liegt er bei exakt 96 000 Euro. Die Verhandlungsmasse vor Gericht: einundzwanzig Monate Knast ohne Bewährung für einen Mann, der wegen des Vorfalls bereits drei Monate in Untersuchungshaft saß. Er beteuert seine Unschuld.

Bei Menschenansammlungen, das ist meine Erfahrung, geschehen in einer adrenalinlastigen Atmosphäre oft seltsame Dinge. Das gilt nicht nur für Demos, sondern auch für Fußballspiele, Bierzeltorgien, Rockshows, Gemeinderatssitzungen.

Nächster Fall. Der Demonstrations­Organisator Gangolf Stocker, 68, einer der Pioniere des S-21-Protests, steht demnächst zum vierten Mal wegen desselben Delikts vor Gericht. Vorwurf: Er habe gegen das Versammlungsgesetz verstoßen. Zuerst vom Amtsgericht verurteilt, wurde er vom Landgericht freigesprochen. Dieses Urteil hat das Oberlandesgericht aufgehoben und zurückgewiesen. In der zweiundzwanzig Seiten langen Begründung heißt es, das Landgericht hätte sich „mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob dem Angeklagten der Einsatz von Ordnern deshalb aufgegeben wurde, um eine unmittelbare Gefährdung für die Sicherheit und Leichtigkeit des fließenden Verkehrs abzuwehren“.

Stocker wird beschuldigt, er habe zu ­wenige Demo-Ordner eingesetzt. Pflicht ist ein Ordner pro fünfzig Demonstranten. Falls tausend Demonstranten mehr kommen als erwartet, muss der Verantwortliche nach dem Gesetz zwanzig Ordner auf der Reservebank haben. Wie ein Mensch in der Lage sein soll, Demonstranten und Ordner im Getümmel exakt zu zählen, weiß ich nicht. Offenbar können das gewisse Staatsanwälte und Richter. Womöglich stehen Juristen besser im Leben als normale Leute, kennen deshalb die Phänomene der Straße und der Masse. Wie es einem Demo-Chef allerdings gelingen soll, in Deutschlands Stauhauptstadt Stuttgart die „Gefährdung“ für die „Leichtigkeit des fließenden Verkehrs ab­zuwehren“, soll mir bitte einer erklären. Dafür muss man wohl verdammt viel Jura studiert haben, in geschlossenen Räumen ohne Schamecke.

Als ich im Gericht mal ein Wohnklo besichtigte, las ich an der Wand diesen Vers: „Es lebe hoch das deutsche Recht / Wem’s widerfährt, dem geht es schlecht.“

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NACHTRAG: Der Hauptangeklagte ist am Freitag wegen schwerer Körperverletzung und Landfriedensbruch zu 15 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt worden. Solche Urteile haben mit Recht und Unrecht wenig zu tun - es handelt sich um politisch motivierte Strafen. Demonstranten werden immer öfter kriminalisiert, das Versammlungsrecht wird eingeschränkt. ALLES ÜBER DIE VERHANDLUNG



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