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Montag, 30. Mai 2011, 734. Depesche



DIE NÄCHSTE KOLUMNE wandert am Dienstag irgendwann STN ONLINE



Wäre Balsam für die Piratenseele, wenn noch ein paar Leute an Bord kämen:

FLANEURSALON IM FLUSS

Der Flaneursalon im Fluss rückt näher. Am Mittwoch, 29. Juni, entern wir das Neckarschiff "Wilhelma". Ausflug der Gerechten zu Wasser mit den Musikern Zam Helga, Roland Baisch & Friends, Michael Gaedt, Dacia Bridges, Nils Heinrich. Hier geht's zum -> VORVERKAUF

Und vom Neckar direkt nach Vietnam:



MISTER SAIGON

Der Stuttgarter Journalist Bernhard Ubbenhorst, ein guter Bekannter aus dem Flaneursalon-Dunstkreis, ist für längere Zeit nach Vietnam gereist. Hier seine ersten Gedanken:



DEER HUNTER, EINE ERINNERUNG

Was weiß ich eigentlich über Vietnam? Ich kenne zum Beispiel ein Buch über Stuttgart und das Leben dort in den Sechzigern. Es heißt „Der VfB grüßt den tapferen Vietcong!“. Das Bild eines Transparentes im Neckarstadion ziert den Titel. Ho Chi Minh und sein Kampf gegen den kapitalistischen Süden Vietnams glich damals in den Augen der westlichen Jugend dem Kampf des Guten gegen das Böse oder dem Davids gegen Goliath. Ob die Roten damals auch schon tapfer gegen den Abstieg und die Goliaths der Liga kämpfen mussten weiß ich nicht, das sollen die roten Chronisten herausfinden. Immerhin passte die Farbe und ernstgemeinte Solidarität hinterfragt man nicht.

Der Vietnamkrieg war ja Ende der sechziger bis Mitte der siebziger Jahre eine der Triebfedern für die so genannte 68er-Revolution. Meine Erinnerung an diese Zeit entspricht den Eindrücken, die ein Grundschüler so zu sammeln in der Lage ist. Langhaarige, bärtige Hippies mit Schlaghosen und Peace-Zeichen auf der Stirn gab es in unserem Dorf nicht. Und doch färbte die 68er-Bewegung auch dort auf die Jugend ab. „Lange Haare, kurzer Verstand“, war einer der Sprüche, an die ich mich erinnere. Ich bekam ihn immer zu hören, wenn ich mit dem Friseur um jeden Zentimeter Haarlänge kämpfte und doch verlor. Dazu die Erinnerung an den Geruch von Patschuli und Räucherstäbchen, grell geschminkte Gesichter der Nachbarinnen, orangene Kleidung, Afri-Cola und -Look, Bluna und einige unverschämt kurze Röcke, die damals selbst einen jungen Schulbuben beeindruckten. Auch wenn er noch nicht die geringste Ahnung davon hatte, warum das seltsame Gefühle hervorrief. Und dann gab es noch die Musik, aber das würde nun zu weit führen.

Spurensuche. Krame ich weiter in meinem Gedächtnis, befinde ich mich Anfang der Siebziger als Teenager gebannt vor dem Fernseher und sehe in der Tagesschau die Kriegsberichterstattung aus Vietnam. Neue Offensive der US-Amerikaner! Hanoi, Hue, Saigon, Napalm, Agent Orange, Hubschrauber, Bomber, das ganze Programm. Dazu die Demonstrationen gegen den Krieg. Furchtbare Bilder dominieren, Leid, Elend, flüchtende Kinder, Bilder von verstümmelten Soldaten aus Lazaretten der US-Armee und jede Menge ratlose Politiker. Eins zu Eins aus Vietnam berichtet, von mutigen Korrespondenten, denen der Begriff „Embedded Journalist“ noch unbekannt war. Was nicht bedeutet, dass die Propagandamaschinerie des kalten Krieges nicht auch diesen Konflikt maßgeblich mitbeeinflusst hat. Aber im Vergleich zu heutigen Kriegen, kam der Schrecken damals sehr ungefiltert in meine heile Welt. Harter Stoff für jemanden, der sich Bilder vom Krieg zuvor aus den Erzählungen der Eltern über den zweiten Weltkrieg zusammenfantasieren musste. Die echten Bilder im Fernsehen übertrafen diese Fantasien bei Weitem.

Die nächste Spur wurde 1978 gelegt. Drei Jahre nach dem Waffenstillstand, der für die Amerikaner eine schmerzliche Niederlage bedeutete, wurde in Michael Ciminos Film „The Deer Hunter“ das amerikanische Vietnam-Trauma auf unvergleichliche Weise seziert. Robert de Niro verkörpert in einer seiner besten Rollen das kollektive Leid der Amerikaner. Ich sah diesen Film 1981 erstmals im Smoky-Kino im westfälischen Münster. Lange Nächte mit Themenschwerpunkt waren damals modern. "Catch 22", "M.A.S.H." und "Deer Hunter", der in Deutschland den bescheuerten Titel „Die durch die Hölle gehen“ verpasst bekam, sollten für spannende Stunden bis morgens um 4 Uhr garantieren. Ich schlief wie immer im Kino nach der Werbung ein. Wenn es dunkel und warm ist, stellt mein Körper unwillkürlich auf den Schlafmodus um. Ich wusste darum, doch auf die lange Nacht der Anti-Kriegsfilme wollte ich trotzdem nicht verzichten.

Glücklicherweise wachte ich rechtzeitig zu Ciminos Film wieder auf, während alle anderen um mich herum mit der Müdigkeit kämpften. So hatte ich meine Ruhe. Der Film lieferte sehr brauchbare Erklärungen für den Schrecken der "Tagesschau"-Kriegsbilder in meinem Kopf, obwohl keine einzige Kampfhandlung gezeigt wurde. Selten hat mich ein Film so tief berührt. Hört sich pathetisch an, aber gemessen daran, dass ich während des Films Rotz und Wasser geheult habe, ist das durchaus angemessen.

Später realisierte ich, dass die Vietcong-Kommunisten in dem Film sehr schlecht wegkommen sind. Russisches Roulette mit Kriegsgefangenen gehörte niemals zu ihrem Repertoire. Vietnamesen haben Respekt vor Menschen, selbst vor ihren Feinden. Auch wenn sie sonst nicht sehr zimperlich mit ihnen umgegangen sind. Was jedoch auf Gegenseitigkeit beruhte, wie die historische Aufarbeitung des Vietnamkrieges uns lehrte. Die Begeisterung über diesen Film ließ im Laufe der Jahre nach, die Erinnerungen an den Vietnamkrieg wurden durch andere, nicht weniger einprägsame Dinge in meinem Leben überlagert. Das einzige was blieb, war die Verehrung für den Schauspieler Robert de Niro. Und nicht zu vergessen ein schönes Zitat aus „Deer Hunter“, an das mich der Schöngeist und Flötist Robert R. kürzlich bei einem Gespräch über Vietnam erinnerte. Der Casino-Besitzer fragt mit seinem französischen Akzent: "Wie wär’s mit Champagner?" – "Nein." – "Sagen Sie nicht Nein. Wer sagt Nein zu Champagner, der sagt Nein zum Leben."

Champagner trinke ich nie. Diese Woche begebe ich mich auf Spurensuche in Saigon. Das Casino aus Deer Hunter werde ich nicht finden. Ich gehe stattdessen ins Kriegsmuseum Saigon und werde mich dort ein wenig gruseln.

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