Bauers Depeschen


Donnerstag, 04. November 2010, 612. Depesche



ACHTUNG, auf mich hört ja eh keiner, aber ich sag's zum letzten Mal:

Für "Die Nacht der Lieder" im THEATERHAUS, die Benefiz-Show zugunsten der Aktion Weihnachten der StN, gibt es nicht mehr viele Karten - für den 16. Dezember noch ca. 100, für den 17. Dezember etwa 40. Und dann basta!



Ich schätze, diese StN-Kolumne ist untergegangen

(Mit besten Grüßen an Stefan Geyer, Frankfurt am Main)



DER CORNERMAN

Links von mir glitzern die Fäden des Lamettavorhangs, rechts steht die kleine Bierbar, hinter mir hat man für alle Fälle das DJ-Pult mit den Technics-Plattenspielern aufgebaut. Vielleicht kommen bald ein paar Damen und tanzen.

Habe mir am Vormittag im Ausweichquartier des Staatsschauspiels, Türlenstraße 2, eine Schreibnische eingerichtet. Das Theaterprovisorium nördlich vom Bahnhof ist ein schöner Platz mit der Weite eines Lofts. Ein urbaner Ort der Begegnung. Im Foyer steht ein Wohnwagen als Kassenhaus, es gibt einen respektablen Tresen zum Essen, Trinken und Denken, und daneben hat man die Schummerlichtbude gestaltet, wo ich tippe.

Es ist herrliches Herbstwetter, Draußensitzerklima. Würde ich aufstehen, könnte ich Richtung Bahnhofsviertel sehen. Leider hatten wir nie etwas, das man Bahnhofsviertel hätte nennen können. Heute ist unser Bahnhofsviertel eine Mischung aus Banken-Ghetto und Fragezeichen.

Ein Freund aus Frankfurt am Main hat mir neulich seine Geschichte über die Pelzhändler im Bahnhofsviertel seiner Stadt geschickt, über die letzten Kürschner und Kaufleute einer einst blühenden Branche. Etwas neidisch habe ich den Text gelesen, Sätze über das Drogenmilieu, die benachbarte Rotlichtszene, über Männer, die vor den Pelzläden gute Autos parken und die Scheine gerollt in der Hosentasche tragen.

Einige Tage später hat mir der Freund berichtet, er könne seine Geschichte leider nicht veröffentlichen. Sein Gesprächspartner, der Rauchwarenhändler F., einer der letzten Kronzeugen aus dem internationalen Zentrum des Pelzgeschäfts, habe seine Aussagen zurückgezogen. Das ist schade.

Vielleicht sollte ich Peter "Oskar" Müller, 73, den Chef der Uhu-Bar in der Stuttgarter Leonhardstraße, anrufen. Oskar, müsste ich sagen, erzähl mir, wie das damals war in Frankfurt. Schließlich hast du dich dort lange genug herumgetrieben. Erzähl von deinem Freund Hagen "Hako" Sevecke, einem Jungen aus Stuttgart, der es als Geschäftsmann im Frankfurter Milieu weit gebracht hat. Heute ist er 70.

Seit 30 Jahren arbeitet Hako bei großen Kämpfen als Cornerman. Er ist der Mann in der Ecke des Boxstalls Wilfried Sauerland. Hako hat Henry Maske, Sven Ottke und Arthur Abraham den Mundschutz eingesetzt, sie mit dem Schwamm fit gerieben und ihnen taktische Tipps gegeben. Womöglich wäre er selbst ein Champ geworden, hätte er sich dafür entschieden.

Einiges spricht dafür. Nach dem WM-Kampf zwischen Nikolai Walujew und John Ruiz vor fünf Jahren in Berlin entriss Ruiz' Trainer Norman Stone dem Weltmeister Walujew den Champions-Gürtel. So etwas geht nicht. Ohne mit der Wimper zu zucken, schickte Hako vor laufenden Kameras den Coach mit einer blitzsauberen Rechten auf die Bretter. Bis heute ist der Hammer des Cornerman in der Boxwelt als "Rechter Hagen" berühmt.

Boxen ist für Hagen Sevecke eine Frage der Ehre, deshalb stand er nie für Geld in der Ecke. Hin und wieder sieht man ihn in der Stuttgarter Altstadt, beim schwäbischen Mittagstisch im Brunnenwirt oder in der Uhu-Bar, wenn der alte Weggefährte Oskar Geburtstag oder eine Party feiert. Dann treffen sich die großen Bellheims der Branche. Hako kann erstklassige Geschichten erzählen, und man lernt schnell, was im Milieu Diskretion bedeutet.

Die großen Zeiten der schummrigen Bahnhofsviertel in deutschen Städten sind so gut wie vorbei. In Stuttgart müsste man weit zurückblicken, um ein paar Anekdoten zu finden. Heute haben wir das kurioseste Bahnhofsquartier, das man sich denken kann. Hinter den Gleisen die Konfektionsarchitektur der Banken, die Beton- und Glas-Symbole der Stuttgarter Stadtplanung. Daran wird sich nichts ändern. Stadtentwicklung ist Privat- und Parteiensache. Architektur, wie man sie anderswo in hochkarätigen Fachgremien erkämpft, gibt es nicht. Wozu. Gerade lese ich auf dem Bildschirm, der CDU-Mann Roland Koch werde als neuer Superbautiger das Geld für Stuttgart 21 umgraben. Freund Mappus wird helfen. Dazu muss man nichts sagen. Man steht in der Boxerecke, das Gesicht überm Wassereimer.

Und dann am Bahnhof der zerstörte Park, wo es nach Lagerfeuer riecht, wo Wohnzelte und Bauzäune stehen. Wo Teddybären, Puppen und Micky Maus an Baumstämmen hängen, als hätte einer Marterpfähle aufgestellt. Der Schlossgarten ist das eigentliche Bahnhofsviertel, ein bizarrer, esoterischer, unwirklicher Ort. Ich weiß, dass mancher im Zelt schläft, weil es zu Hause schlimmer wäre.

In meiner Schummernische haben sich inzwischen drei Schauspielerinnen zum Mittagessen versammelt. Sie sitzen vor dem Lamettavorhang im hereinströmenden Sonnenlicht und sprechen, man mag mir glauben oder nicht, von Shakespeare. Ich hoffe, bald werden sie tanzen.

SOUNDTRACK DES TAGES

(Text: Jörg Fauser)



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