Bauers Depeschen


Dienstag, 02. Oktober 2018, 2015. Depesche



 



MEIN NEUES KOLUMNENBUCH, „Im Staub von Stuttgart“, müsste von dieser Woche an in den Buchhandlungen erhältlich sein.



Vorverkauf läuft gut - wir öffnen auch die Empore

20 JAHRE FLANEURSALON

IM GROSSEN SAAL DES GUSTAV-SIEGLE-HAUSES

Sonntag, 21. Oktober, 19 Uhr.

KARTEN: EASY TICKET Telefon: 0711 / 2 555 555



Hört die Signale!

DAS LIED ZUM TAG



StN-Kolumne:

GRENZSTATION

Stadtflucht. Mit Bahn und Bus habe ich mich bis nach Fellbach-Oeffingen durch­geschlagen, weiß Gott nicht in der Absicht, in diesem Revier zu bleiben. Nur eine kleine Verirrung. Als ich in Fellbach von der S-Bahn in den Bus umsteigen muss, schaue ich nicht auf den Fahrplan. Spaziergänger sehen sich um.

Neben dem alten Bahnhof steht ein kleiner Bau mit Kiosk und einer Wirtschaft, die keine Fragen offen lässt: Sie heißt „Bahnhof-Gaststätte“. Der Kiosk öffnet morgens um fünf, die Kneipe um neun (für gute Bekannte schon früher). Die Geschäfte führen griechische Gastgeber.

Und an dieser Stelle bitte ich um erste Hilfe: Ein begabter Autor/Fotograf mit einer Nase für den philosophischen Kern unserer fragwürdigen Existenz möge sich hurtig auf die Socken machen und ein Buch über alle noch intakten Bahnhofsgaststätten in unserer Gegend zusammenstellen. Schon beim Blick auf die Eisenbahnkneipen, die mir auf die Schnelle einfallen, besteht akuter Handlungsbedarf: Untertürkheim, Obertürkheim, Vaihingen. Von einem filmreifen Etablissement wie etwa in Tübingen zu schweigen.

Alle verbliebenen Zapfstationen mit Zuganschluss sind Tempel der inneren Einkehr. Sie erinnern an Ankunft und Abschied und damit an die Absurdität unseres Daseins. Wir brauchen schleunigst das BGB (Bahnhofsgaststättenbuch), schon weil Tresenregeln viel schärfer die Realitäten unseres Lebens streifen als die Paragrafen des profaneren BGB (Bürgerliches Gesetzbuch).

Zurück nach Fellbach, eine Stadt, von der ich keinen Schimmer habe. Gut, ich habe schon mal die Kleinplastik-Ausstellungsreihe namens Triennale besucht und sogar vom „Fellbacher Herbst“ gehört. Dieses Wein- und Heimatfest findet diesmal vom 12. bis zum 15. Oktober statt – und glänzt mit einem Motto, wie man es sich knackiger und poetischer kaum ausdenken kann: „Die ganze Welt wird digital. Der Fellbacher Herbst bleibt analog – und real.“ Anders gesagt: Humpen schlägt Hightech.

Fellbach, die 45 000-Einwohner-Stadt im Rems-Murr-Kreis, war eigentlich nicht mein Bestimmungsort an diesem Tag. Ich war unterwegs als Grenzgänger. Zielhafen Wienerwald, Stuttgarter Straße 177. Genau genommen liegt dieses Lokal auf Fellbacher Gemarkung. Richtig genau genommen allerdings nur zur Hälfte. Zwar steht das Restaurant auf Fellbacher Seite – aber der dazugehörige Biergarten mit seinen 30 Plätzen unter einem stattlichen Baum ist auf Cannstatter Boden, gehört also rein politisch zu Stuttgart. Dazwischen verläuft die Grenze an der Beskidenstraße, wie die Straßenbahnhaltestelle vor dem Haus heißt.

Die Wirtsleute erzählen mir, dass sie regelmäßig mit zwei verschiedene Behörden zu tun haben: bei inneren Angelegenheiten in Fellbach, bei Freiluftproblemen in Stuttgart. Man nennt das Globalisierung.

Das Lokal, in dem ich trotz umfangreicher Speisenkarte aus historischen Gründen ein klassisches Grill-Hendl mit Pommes und Salat bestelle, leiten seit elf Jahren Panagiotis und Adriana Kokinakias. Das Leben des griechischen Ehepaars ist eng verbunden mit der Geschichte des Wienerwalds. Als der Kellner Friedrich Jahn aus Linz in den Fünfzigerjahren sein Münchner Hühnerhaus „Wienerwald“ nannte und bald schon mit zahlreichen Filialen die Systemgastronomie nach Deutschland brachte, beflügelten seine gerillten Vögel den Zeitgeist im Wirtschaftswunder. „Er war der Imbiss-Imperator der germanischen Fresswelle“, schrieb mal der „Spiegel“. Der kleine Mann fand es schick, sich sonntags mit der ganzen Familie ein günstiges Hendl im Wienerwald zu leisten. 1980 umfasste Jahns Imperium weltweit 1500 Lokale. Finanzskandale des Spekulanten und Franz-Josef-Strauß-Spezis führten zum Absturz. 1998 verstarb der Hühnerkönig mit 74 Jahren. Heute gibt es noch eine Wienerwald Franchising GmbH mit etwa 30 Lokalen.

Panagiotis Kokinakias Vater Efstratios, einst Absolvent der Münchner Hotelfachschule und Mitarbeiter im Stuttgarter Königshof, ließ sich 1966 von Jahn persönlich über­reden, in Stuttgart einen Wienerwald zu gründen. Bis heute führt sein Sohn Vassilios – Panagiotis’ jüngerer Bruder – mit seiner Frau Christine den einzigen verbliebenen Wienerwald der Stadt: in Ostheim, Landhausstraße 203. Vater Kokinakias, heute 82, kommt oft zu Besuch. Es ist nicht übertrieben, diesen Wienerwald einen Ostheimer Kultort zu nennen.

„Wir sind Wienerwald-Kinder“, sagt Panagiotis, der Chef der Fellbacher Hendl-Institution – und klagt über viel zu viel Bürokratie, Papierkram und Ämterkontrolle in der ohnehin bedrohten mittelständischen Gastronomie unserer Tage. Auch darüber ließe sich ein ausführlicher Rapport verfassen.

Kurz erwähnen muss ich noch ein weiteres Denkmal des kulturellen Grenzverkehrs: Gegenüber vom Fellbacher Wienerwald, auf der anderen Seite der Stuttgarter Straße und damit in Cannstatt, steht seit Jahrzehnten das Danziger Stüble, eine einzigartige Wohnzimmerkneipe samt Biergarten. Die Griechin Janna und ihr Partner Simos führen heute diese legendenreiche Pinte mit ihrem Holzhüttencharme. Auch ihre Vorgänger kamen aus Griechenland, wie so vieles in meiner heutigen Kolumne.

Einmal im Monat gibt es im Danziger Stüble Livemusik, so viel hat der (Stuttgarter) Amtsschimmel erlaubt. An vergangenen Samstag spielte die Punkrock-Band Vier Typen. Eigentlich sollte man über solche verwunschenen Orte analoger Menschlichkeit mit Digitalbildschirmen zum VfB-Gucken gar nichts erzählen. Vielmehr beten, dass sie nicht irgendein Hühnerdieb aus der Investmentbranche aufspürt.

 

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