Bauers Depeschen


Samstag, 29. Juli 2017, 1823. Depesche



 



FLANEURSALON mit ROLF MILLER

in UNTERTÜRKHEIM

Am 17. Oktober ist der Flaneursalon in Untertürkheim, an einem eher unbekannten Ort. Bei unserem Gastspiel in einem bizarren, zum Club ausgebauten Industriekeller machen der Halbsatz-Komiker Rolf Miller, das Folklore-Duo Loisach Marci und die Sängerin Anja Binder mit. Die Zahl der Plätze ist begrenzt, es gibt bereits jetzt online und telefonisch einen Vorverkauf: EASY TICKET



Hört die Signale!

MUSIK ZUM TAG



Die aktuelle StN-Kolumne:



DAS ENDE

Es ist kein guter Tag für den Stadtteil Berg, dieser Samstag, der 29. Juli 2017. Viele Menschen werden sich vor dem kleinen Lebensmittelgeschäft in der Karl-Schurz-Straße 25 in der Nähe des Mineralbads Berg versammeln. Tränen werden fließen. Wie immer samstags werden Meral und Ali Nemez ihre Arbeit im Berger Lädle um 14 Uhr beenden. Diesmal für immer - mit einem Abschiedsfest. 18 Jahre lang war ihr Laden ein Biotop der Menschlichkeit im Viertel: Anlaufstelle, Versorgungsstation, Erste-Hilfe-Büro.

Wie so oft komme ich auf den letzten Drücker, und wieder mal hat mir der Zufall den Weg gezeigt: Am Morgen hatte ich den Handwerker Alex wegen eines Sanierungsfalls angerufen, Alex wohnt in der Nachbarschaft des Berger Lädles und informierte mich.

Als ich ankomme, ist Ali auf dem Sprung. Eigentlich müsste er jetzt mit seinem VW-Bus Getränke holen – wie jeden Tag trotz lädierter Schultern und Bandscheiben Kisten schleppen. Dann aber setzen wir uns in den Laderaum des Autos und besprechen die Lage. Per du, wie das üblich ist an Orten, an denen alle gleich viel gelten.

Ali und Meral, Eltern dreier Kinder, machen an diesem Samstag nach langem Existenzkampf ihren Laden im Osten dicht; der Verdienst reicht nicht mehr für die Familie. In Zukunft werden die Eheleute woanders ihr Geld verdienen, Ali wahrscheinlich bei Freunden im Großmarkt, Meral vielleicht in einer Kantine.

Was ich erzähle, ist nicht die Geschichte vom Ende einer Tante-Emma-Laden­Romantik. In der liebevoll gestalteten Bude der Familie Nemez spiegelt sich das Leben eines ganzen Stadtquartiers. Auf ein paar Dutzend Quadratmetern zwischen prall gefüllten Kisten und Regalen erfährst du eine Menge über die Probleme der Menschen im Viertel, vor allem der älteren. Viele Rentnerinnen und Rentner haben nicht nur zu wenig Geld, sie brauchen auch hin und wieder Hilfe. Wenn etwas kaputt geht, ein Staubsauger oder eine Kaffemaschine, heißt der Notfallmann Ali. Wenn ein Kleidungsstück reißt, bringt es Meral in Ordnung. Wenn jemand Medizin aus der Apotheke braucht, ist die Familie Nemez zur Stelle, mitunter rufen sie den Doktor, wenn mit üblichen Hausmitteln nichts mehr zu machen ist. Der eine oder andere hat einen Schnaps und eine Zigarette nötig oder wartet auf ein paar Lebensmittel und etwas Lebenshilfe frei Haus.

Die türkischen Eheleute haben einen gesunden Überlebenshumor. Hier darfst du ungestraft alles sagen. Unmerklich ziehe ich das Genick ein, als mir Meral (45) erzählt, dass sie von Fremden wie mir oft nur „als Dekoration“ gesehen werde, weil im Mittelpunkt halt immer „der Ali“ stehe. Und der Ali (49), der mich grinsend als „Zeitungsjodler“ begrüßt hat, stellt die Sache klar: „Ohne meine Frau hätte ich den Laden nie machen können.“

Nach einem schweren Schicksalsschlag hat sich das Paar entschieden, sich selbstständig und nur noch alles zusammen zu machen: 1994 waren ihre Zwillinge kurz nach dem Geburt gestorben. Bald darauf übernahmen Meral und Ali einen kleinen Laden in Kaltental, fünf Jahre später wurde Berg ihre neue Heimat. Als Kinder türkischer Großfamilien, Aleviten, waren sie einst von der Grenze zu Syrien nach Stuttgart gekommen; Meral besuchte das Gymnasium, Ali machte bei Daimler eine Schlosserlehre.

Die Arbeit im Berger Lädle ist aufreibend. Ali steht nachts um zwei auf und fährt zum Großmarkt Wangen. Wenn ihr Laden um acht öffnet, hat Meral bereits belegte Brötchen zubereitet. Die besten weit und breit, sagen die Kunden, darunter nicht nur Rentner und Leute aus dem nahen Altersheim. Das Geschäft mit Obst und Gemüse und dem Nötigsten für den Haushalt ist auch außerhalb der Öffnungszeiten ein Sammelplatz, eine Institution des Zusammenlebens. Traditionell kommen Polizisten und Müllmänner und Menschen aus dem sozialen Bereich wie die Erzieherin Karin Dünkel. Im Familien und Begegnungszentrum Raitelsberg kümmert sie sich um Flüchtlinge: Ohne die kostenlose Ware der Familie Nemez, sagt sie, wäre einiges nicht möglich gewesen.

Als ich Meral und Ali frage, warum sie überall helfen und spenden, wo sie doch selbst um ihre Existenz kämpfen müssen, bekomme ich die glaubwürdigste aller Antworten: Wir sind einfach so! Dafür gäbe es keine besonderen Gründe, keine religiösen, keine politischen. Ihre Einstellung hätten sie von ihren Eltern: Man tut etwas, weil man es tun muss – und fragt nicht, wofür.

Ihre Haltung, mit Menschen menschlich umzugehen, hat ihnen viel Lob und Aufmerksamkeit gebracht, einen 30-Minuten-Film im SWR und die Bürgermünze des OB. Solche Dinge aber zähmen nicht das Finanzamt, das Steuern im Voraus kassiert, die nicht den zu erwartenden Umsätzen entsprechen. Und der Händedruck eines jovialen Bürgermeisters vor den Kameras hilft erst recht nicht, wenn die Kundschaft weniger wird – wie etwa nach der Schließung der Frauenklinik in der Nachbarschaft.

Gut, könnte man sagen, schuld am Niedergang solcher Läden sind die Leute, die hier nicht einkaufen, weil sie mit ihrer Karre lieber zum nächsten Supermarkt fahren. Eine anständige Stadt aber, denke ich, könnte sich auch mal überlegen, ob es nicht sinnvoll wäre, unersetzbare kleine Geschäfte, deren soziale Bedeutung für ein Viertel weit über die eines Kaufladens hinausreicht, unter eine Art Kulturschutz zu stellen – ihnen Steuererleichterungen oder auch finanzielle Hilfen zu gewähren. Die ach so freie Marktwirtschaft würde deshalb in ihrer Deregulierung nicht zusammenbrechen in einem Land, wo man 500 PS starke Dienstwägen oder Immobilienspekulanten subventioniert. Kleine Dinge machen eine Stadt lebens- und liebenswerter als ein Einkaufsklotz nach dem anderen.

Bevor ich gehe, sagt mir Frau Straub, eine alte Kundin, sie sei „sehr traurig“. Vielleicht aber gibt es einen Funken Hoffnung. Ein paar Häuser weiter führt Alis Schwiegersohn Süleman Kuh das Bäckergeschäft Voß-Lädle. Als ich mit dem Handwerker Alex bei ihm einkehre, macht mein Begleiter ein paar Scherze über Süleman als kommendem Chef des Berger Lädles. Süleman, wir sehen uns.



 

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