Bauers DepeschenSamstag, 01. Juli 2017, 1810. DepescheLIEBE GÄSTE, hier ein paar Hinweise auf bevorstehende Aktionen und Veranstaltungen: Montag, 3. Juli, Stuttgarter Marktplatz: STOPPT DEN AUSVERKAUF DER STADT! Für Menschen bauen – nicht für Profite! Immer mehr Menschen in Stuttgart und Umgebung sind von Mietexplosion, Abrisswahn und Wohnungsnot betroffen. Am 3. und 4. Juli feiern Politiker und Größen der Bauwirtschaft ihren „10. Immobilien-Dialog Region Stuttgart“ im Rathaus. „Investoren sind in der Region Stuttgart willkommen, denn die Wachstumsperspektiven bleiben trotz knapper Flächen weiterhin gut“, verkündet die Agentur Heuer-Dialog als Veranstalter. Das AKTIONSBÜNDNIS RECHT AUF WOHNEN ruft auf zum Protest gegen diese Immobilien-Kungelei und die Verdrängung von Gering- und NormalverdienerInnen aus unserer Stadt. „Für Menschen bauen – nicht für Profite!“ – unter diesem Motto treffen wir uns am Montag, 3. 7., zu einer Aktion auf dem Marktplatz. Beginn 19 Uhr. Bitte Trillerpfeifen u. ä. mitbringen. Die Aktion wird unterstützt von Ver.di und den Anstiftern. DONNERSTAG, 20. JULI: VON WEGEN NIEDLICH Ein Abend zu Ehren des Buchhändlers Wendelin Niedlich, der am 31. August seinen 90. Geburtstag feiert. Stadtbibliothek am Mailänder Platz, 19.30 Uhr. Mit Wolfgang Dauner, Friederike Roth, Jan Peter Tripp, Joe Bauer, Hans Peter Breuer, Günter Guben & Hermann Lenz, Georg Dietl, Ekkehard Rössle & Peter Grohmann. - Organisation: Wolfgang Kiwus. Anmeldung bei der Stadtbibliothek unter Tel. 0711/21691100 oder 0711/21696527. MONTAG, 24. JULI: Spezielle Montagsdemo der S-21-Gegner zusammen mit anderen politischen Initiativen: "Druck in den Kessel - Für ein anderes Stuttgart". Moderation Sidar Carman & Joe Bauer. Schlossplatz, 18 Uhr. MITTWOCH, 26. Juli Ein kleiner Erinnerungsabend zum 80. Todestag der Stuttgarter Kriegsfotografin Gerda Taro. Gerda-Taro-Platz, 18 Uhr. Es sprechen die Taro-Biografin Irme Schaber, der Historiker Michael Uhl und unsereins. Musik zum Thema macht STEFAN HISS. Hört die Signale! MUSIK ZUM TAG Die aktuelle StN-Kolumne: DER DETEKTIV Es ist ein Blitzbesuch. Auf den letzten Drücker vor dem großen Fest treffe ich im Haus der Wörners ein. Wir setzen uns auf den Balkon. Blick auf die Natur. Hinter dem Maisfeld unter uns stehen Bäume Spalier, um ein kleines Gewässer, den Steinbach, abzuschirmen. Ich bin in der Herschelstraße gelandet; ein Jahr nach der Gründung des Stadtviertels hat man sie aus irgendwelchen, mir nicht bekannten Gründen auf den Namen des 1738 in Hannover, 1822 in England gestorbenen Astronomen Friedrich Wilhelm Herschel getauft. Mein Gastgeber Hans Martin Wörner feiert an diesem Sonntag seinen 72. Geburtstag – dieses Ereignis war mir vor meinem Überfall im südlichen Stadtteil Dürrlewang so wenig bekannt wie vieles andere, wovon ich heute berichte. Ein Geräusch wie ferner Donner kündigt noch nicht den Wolkenbruch an, der uns später vom Balkon vertreiben wird. Es ist Baulärm aus der Rohrer Kurve, einer umstrittenen Baustelle für Stuttgart 21. Herr Wörner, Sohn des ersten Pfarrers von Dürrlewang und verheiratet mit Irmtraud aus Dürrlewang, hat vor einiger Zeit ein Buch über seinen Heimatort geschrieben: „Keine Sau auf dem Balkon“. Mein Verdacht, die Leute in der Gegend seien womöglich etwas frischluftfeindlich, ist falsch. Als Menschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten einst in die neue Siedlung kamen, wurde das Gerücht verbreitet, die Flüchtlinge hielten sich Schweine auf ihren Balkonen. Das war genauso erfunden wie andere Behauptungen, die man heute Fake-News nennt. An diesem Samstag feiert Dürrlewang, 3500 Einwohner groß, mit einem Straßenfest sein 60-jähriges Bestehen. Die Party mit bunten Aktionen ortsansässiger Gruppen steigt rund um die Ladenstraße, in der Nähe der 2016 eröffneten Endhaltestelle der Stadtbahnlinie 12. Seit die Straßenbahn vom Hallschlag mit der Leuchtschrift Dürrlewang durch den Kessel fährt, ist die Siedlung ein bisschen bekannter geworden. „Früher habe ich immer gesagt, ich wohne zwischen Rohr und Möhringen. Mit Dürrlewang hat keiner was anfangen können“, sagt Herr Wörner. Mit der U 12 brauchst du von der Stadtmitte bis zur Endstation zwar nur wenig mehr als 20 Minuten – wegen einer so läppischen Entfernung aber betrachtet man bei uns viele Orte als Ausland. Dürrlewang, dem Stadtbezirk Vaihingen zugeordnet, ist eine reine Wohnsiedlung. Die Immobilien in der Abgeschiedenheit sind in den vergangenen Jahren begehrter und – nicht zuletzt wegen der Stadtbahnstation – auch teurer geworden. Einst hatte der Flecken wie andere Siedlungen, etwa Rot oder der Fasanenhof, gegen üble Vorurteile und Verleumdungen zu kämpfen. Der schlechte Ruf seiner Umgebung hat den gelernten Schriftsetzer Hans Martin Wörner nicht nur geärgert, sondern auch motiviert: Neben seinem Beruf als Technischer Lehrer am Institut für Buchgestaltung der Kunstakademie erforschte er leidenschaftlich seine Heimat. Als versierter Autor und Fotograf erkennt er früh, dass es bei der historischen Aufarbeitung vor allem um den einzelnen Menschen gehen muss – um individuelle Geschichten und Schicksale. Zahlreiche Interviews mit Bürgern verarbeitet er zu erzählerischen Texten, aufklärerischen Betrachtungen und Porträts. Er gibt den Menschen von Dürrlewang ein Gesicht, führt sie heraus aus der anonymen Masse, die von denkfaulen Außenstehenden und notorischen Stänkerern pauschal verunglimpft wird. Nach dem Krieg wurden mittellose Menschen aus den Bunkern Stuttgarts und ehemaligen deutschen Ostgebieten nach Dürrlewang verpflanzt. „Für diejenigen, die damals auf der Flucht von weiter her nach Stuttgart gekommen waren, war die Eingewöhnung ungleich schwieriger“, schreibt Wörner 2014 in einem Aufsatz. „Nur wenige der damaligen Flüchtlinge leben noch, sie haben mir erzählt von Batschka, Syrmien, Slawonien . . .“ Und der Autor erklärt uns, warum es wichtig war, möglichst viele Menschen in ihrer neuen Heimat zu befragen: „Die Geschichte der Stuttgarter Wohnungssuchenden sowie die der Flüchtlinge und Vertriebenen wurde nie erfasst.“ Wer die Berichte aus der Zeit der Nachkriegsbaracken und ersten, billigen Wohnblocks von Dürrlewang liest, denkt an die Not der Gegenwart. Auch heute ist es nicht einfach, sich Einblick zu verschaffen. Neulich habe ich Familien aus Afghanistan und Syrien in einem Container-Camp am Rand der Stadt besucht; sie hatten zuvor in Turnhallen gelebt. Eine Betreuerin erzählte mir von einer Mutter, die mit ihrem frisch geborenen, schlimm erkrankten Baby von drei Krankenhäusern abgewiesen wurde. Anderntags bat mich die Betreuerin, Namen und Details nicht zu veröffentlichen, um Schwierigkeiten zu vermeiden. Hans Martin Wörner hat seine Kindheit mit drei Geschwistern und den Eltern in einer engen Vier-Zimmer-Wohnung inklusive Amtszimmer verbracht; erst später wurden das evangelische Gemeindezentrum und die Stephanuskirche gebaut. Wie kein anderer kennt er die Entwicklung des Stadtteils, keiner kann sie so lebendig und spannend beschreiben. Und sein Blick richtet sich keineswegs nur auf die Vergangenheit. Bis heute beobachtet er als couragierter und kritischer Detektiv Entwicklungen der Siedlung, das Förderprogramm „Soziale Stadt“ und die neuen Bausünden in der Gegend. Vieles hat sich verändert in dem einstigen Zufluchtsort Dürrlewang. In der Ladenstraße, Schauplatz des Stadteilfests, gibt es heute kaum noch Läden. In einem leer stehenden Gebäude an der U-Bahn-Haltestelle, in dem früher ein Lebensmittelladen, später ein Drogeriemarkt und eine BW-Bank-Filiale waren, wurde vor Kurzem ein türkischer Betraum eingerichtet. Als uns der Regen vom Balkon verjagt, erzählt mir Herr Wörner vom Hochwasser. Dürrlewang mit seinen vielen Bächen wurde auf sumpfigem Gebiet gebaut. Zwar riecht es heute in der Siedlung nicht mehr nach billigem Fichtennadelschaum wie damals, als aus dem öffentlichen Wannenbad im benachbarten Rohr die Abwässer abgeleitet wurden. Aber erst vor vier Jahren hat ein Starkregen zahlreiche Keller unter Wasser gesetzt, Kühlschränke und Waschmaschinen zerstört. Diese Gefahr besteht bis heute. Ich fahre zurück ins Tal. |
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