Bauers Depeschen


Dienstag, 14. März 2017, 1756. Depesche



 



MUSIK ZUM TAG



Die aktuelle StN-Kolumne:



FÜR DIE KLEINEN LEUTE

Als ich am Morgen durch den Dachswald laufe, trommelt der Specht. „Ein Specht, dem gerade zum Trommeln zumute ist, fliegt an einen günstigen Ast, setzt sich zurecht, plustert das Gefieder, senkt den Schnabel lotrecht auf die Trommel und schlägt seinen Wirbel“, lese ich später in einem Text des Naturschutzbunds Deutschland (Nabu). Und: „Die Trommelwirbel der verschiedenen Spechtarten sind sehr unterschiedlich.“

Demnach muss es Pop- und Rockspechte, Hip-Hop- und Tango-Spechte geben. In Stuttgart, fällt mir ein, wirkte einst ein Jazzmusiker namens Specht. Er trommelte am Klavier unter anderem für das Trio Ragtime Specht Groove und das Duo Specht & Spatz. Womöglich ist sein Dixie-Gehämmer bis heute in den Ästen des Dachswalds zu hören, um den armen Jogger in den Kollaps zu treiben. Mit bürgerlichem Namen hieß besagter Specht Hans-Jürgen Bock, im Mai 2006 ist er gestorben.

Es wird Frühling, die Bäume schlagen aus. Nach einem langen Winter kommen dem Spaziergänger diese Naturexplosionen gar nicht gelegen. Der Dachswald am Morgen war nur meine Aufwärmstation. Die Sonne steht schon etwas tief, als ich bei klarem Märzwetter durch Ostheim gehe.

Ostheim bietet dem Spaziergänger eine der schönsten Kulissen der Stadt – auch wenn das Bild vom angenehmen Leben täuscht. In einigen Ecken des Stadtteils, etwa an der Rotenbergstraße, sind nach den Häuserrenovierungen der SWSG die Mieten drastisch gestiegen. „Doppelt so hoch“, sagt mir eine Frau im Vorgarten, bevor sie mir einen schönen Sonntag wünscht.

1890 gründete der legendäre Stuttgarter Bankier, Genossenschaftler und ­Sozialreformer Eduard Pfeiffer seine Initiative „Billige Wohnungen für kleine Leute“. Von 1892 bis 1903 ließ sein „Verein für das Wohl der arbeitenden Klassen“ die Siedlung Ostheim bauen. Für Arbeiter, Handwerker, für Menschen, die wenig hatten. Man kann das nachlesen auf dem Gedenkstein am Eduard-Pfeiffer-Platz, dem ehemaligen Teckplatz, im Volksmund früher Teckplätzle genannt.

Dieser 2004 umbenannte Platz ist für Autos freigegeben, dennoch wirkt er mit seinem Kopfsteinpflaster und den statt­lichen Backsteingebäuden offenherzig-städtisch – eine Wohltat angesichts der vielen scheußlichen Asphaltflecken, die man in dieser Stadt Plätze nennt. Es ist kaum Verkehr am Sonntag, und beim Plaudern mit jungen Leuten erfahre ich: Dieser Ort ist auch werktags ruhig und beschaulich. Selbst die Mieten der Eduard-Pfeiffer-Stiftung, die in einem Gebäude mit der Büste ihres Gründers in der Schwarenbergstraße residiert, seien heute noch korrekt. In der Nähe der Stiftung findet man auch den Julie-Pfeiffer-Platz, gewidmet Eduards Frau: „großzügige Spenderin für soziale Zwecke“.

Eine Ostheim-Tour zu Fuß empfiehlt sich jedem halbwegs neugierigen Stadtmenschen nicht nur aus historischen Gründen. Pflicht wie Kür ist der Spaziergang durch die Neuffenstraße, die vom Eduard-Pfeiffer-Platz wegführt – ein häufig fotografiertes Anschauungsmodell für alle, die etwas mit Städtebau und Architektur zu tun haben. Die kleinen Häuser mit ihren Vorgärten wirken in den langen Schatten bei tief stehender Sonne so geheimnisvoll, als stünden sie in einer fremden Stadt. Mit Blick auf diese Straße habe ich vor Jahren mal einen kleinen Kolumnentext mit „Backsteinhausballade“ überschrieben. Für ein solches Lied würde ich heute nicht unbedingt einen Specht trommeln lassen. Überall in Ostheim werde ich von Gezwitscher begleitet – doch müsste ich auch in diesem Fall einen Nabu-Experten fragen, welche Vögel mir singen. Leider habe ich die Natur in der Stadt nicht im Griff, bin schon froh, wenn ich die Schreie der Papageien am Cannstatter Daimlerplatz vom Gebrüll der VfB-Fans im Stadion unterscheiden kann.

Nach Ostheim komme ich regelmäßig, schon weil ich beim schwäbischen Griechen Schorsch im Gasthaus Friedenau einkehre und ab und zu einen Blick werfe ins benachbarte Gasparitsch, das selbstverwaltete Stadteilzentrum mit dem Namen des antifaschistischen Ostheimer Widerstandskämpfers Hans Gasparitsch. Diesmal allerdings hat mich ein Artikel unserer Zeitung Richtung Gaskessel gelenkt. Darin geht es um eine Studie des Instituts für Urbanistik für Stuttgart über die „Verdrängung von Sozialmietern aus renovierten und sanierten Häusern“. Zu den meistbedrohten Quartieren der Stadt zählen das Nordbahnhofviertel, das Rosenbergquartier (in meiner Nachbarschaft), der Stöckach, das Heusteigviertel, Heslach, einige zentrale Bereiche von Cannstatt – und Ostheim.

Es ist wichtig, diese Entwicklung endlich beim Namen zu nennen: Menschen mit geringerem Einkommen werden aus der Stadt vertrieben, weil sie sich die Miete nicht mehr leisten können – Folgen einer rigorosen Immobilienpolitik zugunsten von Investoren und Spekulanten. Seit Jahrzehnten haben fast alle Parteien im Rathaus die Profitstrategien des „freien Markts“ beschworen und damit sozialen Zündstoff produziert.

Als sich der Millionär Eduard Pfeiffer für günstige Wohnungen einsetzte, warnte er vor der auseinanderklaffenden Schere zwischen Arm und Reich und einer weiteren Revolution wie 1848: „Merkt es Euch, Ihr Mächtigen und Reichen, die Ihr behaglich dahinlebt, ohne Euch um das Los derer zu kümmern, durch die der ganze Comfort, der Euch umgibt, geschaffen wurde!“

In den Straßen von Ostheim höre ich nicht nur das Zwitschern der Vögel. Ich kann auch verstehen, was uns die alten Backsteinbauten flüstern: Trommelt wie der Specht für euer Recht auf Wohnen.



FLANEURSALON IN DER FRIEDENAU

Den nächsten Flaneursalon gibt es am Donnerstag, 6. April, in der geschichtsreichen Theater-Gaststätte Friedenau in Ostheim. Auf die Bühne bei meiner Lieder- und Geschichtenshow gehen der Entertainer Roland Baisch und sein Gitarrist Frank Wekenmann, die Sängerin Thabilé und ihr Gitarrist Steve Bimamisa. Ich mache auch mit. Beginn 20 Uhr. Bewirtung im Saal ab 18 Uhr.

Reservierungen: 0711/2 62 69 24.





 

Auswahl


Depeschen 2311 - 2318

Depeschen 2281 - 2310

Depeschen 2251 - 2280

Depeschen 2221 - 2250

Depeschen 2191 - 2220

Depeschen 2161 - 2190

Depeschen 2131 - 2160

Depeschen 2101 - 2130

Depeschen 2071 - 2100

Depeschen 2041 - 2070

Depeschen 2011 - 2040

Depeschen 1981 - 2010

Depeschen 1951 - 1980

Depeschen 1921 - 1950

Depeschen 1891 - 1920

Depeschen 1861 - 1890

Depeschen 1831 - 1860

Depeschen 1801 - 1830

Depeschen 1771 - 1800

Depeschen 1741 - 1770
05.04.2017

04.04.2017

02.04.2017
31.03.2017

30.03.2017

29.03.2017
28.03.2017

27.03.2017

25.03.2017
23.03.2017

22.03.2017

20.03.2017
18.03.2017

16.03.2017

14.03.2017
13.03.2017

10.03.2017

09.03.2017
06.03.2017

05.03.2017

04.03.2017
03.03.2017

01.03.2017

26.02.2017
24.02.2017

21.02.2017

19.02.2017
17.02.2017

15.02.2017

14.02.2017

Depeschen 1711 - 1740

Depeschen 1681 - 1710

Depeschen 1651 - 1680

Depeschen 1621 - 1650

Depeschen 1591 - 1620

Depeschen 1561 - 1590

Depeschen 1531 - 1560

Depeschen 1501 - 1530

Depeschen 1471 - 1500

Depeschen 1441 - 1470

Depeschen 1411 - 1440

Depeschen 1381 - 1410

Depeschen 1351 - 1380

Depeschen 1321 - 1350

Depeschen 1291 - 1320

Depeschen 1261 - 1290

Depeschen 1231 - 1260

Depeschen 1201 - 1230

Depeschen 1171 - 1200

Depeschen 1141 - 1170

Depeschen 1111 - 1140

Depeschen 1081 - 1110

Depeschen 1051 - 1080

Depeschen 1021 - 1050

Depeschen 991 - 1020

Depeschen 961 - 990

Depeschen 931 - 960

Depeschen 901 - 930

Depeschen 871 - 900

Depeschen 841 - 870

Depeschen 811 - 840

Depeschen 781 - 810

Depeschen 751 - 780

Depeschen 721 - 750

Depeschen 691 - 720

Depeschen 661 - 690

Depeschen 631 - 660

Depeschen 601 - 630

Depeschen 571 - 600

Depeschen 541 - 570

Depeschen 511 - 540

Depeschen 481 - 510

Depeschen 451 - 480

Depeschen 421 - 450

Depeschen 391 - 420

Depeschen 361 - 390

Depeschen 331 - 360

Depeschen 301 - 330

Depeschen 271 - 300

Depeschen 241 - 270

Depeschen 211 - 240

Depeschen 181 - 210

Depeschen 151 - 180

Depeschen 121 - 150

Depeschen 91 - 120

Depeschen 61 - 90

Depeschen 31 - 60

Depeschen 1 - 30




© 2007-2024 AD1 media ·