Bauers Depeschen


Montag, 24. Dezember 2012, 1030. Depesche



FLANEURSALON IM SCHLESINGER

Der erste Flaneursalon im neuen Jahr geht am Dienstag, 19. Februar, im SCHLESINGER über die Bühne. 20 Uhr. Erstmals mit UTA KÖBERNICK und ihrer Band Kritische Begleitung - und mit Dacia Bridges, Zam Helga und Roland Baisch. Karten gibt es in der Kneipe.



SOUNDTRACK DES TAGES



WERTE HOMEPAGE-GÄSTE,

liebe Freunde, Sympathisanten, Unterstützer, Helfershelfer,

Spitzel, Schnorrer, Reaktionäre (die weibliche Form bitte jeweils in Gedanken einfügen),



ob die Weihnachtszeit dafür taugt, etwas zu verändern, glaube ich nicht. Die Weihnachtstage sind womöglich so etwas wie eine Gelegenheit, den Lebensrhythmus zu überprüfen. Dennoch befürchte ich, dass mein eigener Lieblingssatz auch noch an Weihnachten 2013 Gültigkeit hat:

"Am Morgen wachte ich auf und dachte über mein Leben nach. Ich sah nach hinten und nach vorne, und da war nichts."

In diesem Sinne wünsche ich allen, die sich auf diese Seite verirren, speziell den Flaneursalon-Getreuen, ein paar gute Tage in erregendem Frieden. Ich bedanke mich herzlich bei allen Leserinnen und Lesern. Bei den Besucherinnen und Besuchern der Veranstaltungen. Bei den Lesersalon-Schreiberinnen und -Schreibern für die aufbauende Resonanz. Bei den Zaungästen für die anonyme Kontrolle. Für das Durchhalten bei Demos und Aktionen gegen die Stadtzerstörung - und die Neugier überhaupt. Ignoranz ist ja eines der schlimmsten Übel überhaupt. Ignoranz, die Basis der Skrupellosigkeit, kaschieren die neoliberalen Plattmacher mit dem Hinweis auf den "Fortschritt", zu Deutsch: Was war und ist, ist ihnen wurscht.

Und hier die aktuelle StN-Kolumne:



DIE WEIHNACHTSGESCHICHTE

Obwohl ich einige Weihnachten aus nächster Nähe erlebt habe, ist mir nie eine Weihnachtsgeschichte eingefallen. Weder nach noch vor Weihnachten. Auch hat mir nie einer eine Weihnachtsgeschichte geschenkt.

Ich denke, es ist schwer, eine Weihnachtsgeschichte zu finden, und noch schwieriger, sie aufzuschreiben. Es regnete in Strömen nachts um halb zwölf, als ich in Begleitung einer Dame von der Rötestraße die Reinsburgstraße hinaufging. Ich ging in Stiefeln mit schrägen Absätzen und dünnen Ledersohlen, und ich erzähle Ihnen das, weil man in guten Stiefeln mit Ledersohlen ein anderes Gefühl für eine Straße entwickelt als in Schnürschuhen oder Sandalen.

„In meinem ganzen Leben ist mir nie eine Weihnachtsgeschichte eingefallen“, sagte ich zu der Dame. „Dann denkst du falsch über Weihnachten, du hast einen falschen Ansatz“, sagte sie. „Das wahre Weihnachten, das Motiv jeder Weihnachtsgeschichte, ist die Weihnachtserwartung.“ „Das ist mir zu hoch“, sagte ich. „Die Weihnachtsrealität“, sagte die Dame, „ist viel weniger weihnachtlich als die Weihnachtserwartung.“

Unsinn, dachte ich. Weihnachten ist, wenn Bob Dylan singt: „I'll Be Home For Christmas". Und eine gute Weihnachtsgeschichte ist lebensnah wie ein Song, und sie trägt einen Titel wie die Weihnachtsgeschichte des Schriftstellers Franz Dobler: „Heimat ist da, wo man sich aufhängt“.

Unterwegs in der dunklen, verregneten Reinsburgstraße lässt sich durch die dünnen Ledersohlen hindurch mit dem großen Zeh spüren, dass in dieser Straße früher das Leben war. Die Straße ist außerordentlich lang, ihr Charakter ausschweifend, und die Architektur der Häuser erzählt einem auch in einer verregneten Dezembernacht von einer alten Würde und Schönheit.

Man hat solche Straßen früher Prachtstraßen genannt. Es gab stattliche Geschäftsgebäude und mehr Cafés, Restaurants und Vergnügungsläden als heute. Friedrich Schiller, heißt es, habe im Hofküchengarten, Reinsburgstraße, an „Wallensteins Tod“ gearbeitet und alles über die Haltung der Leute im heutigen Rathaus vorhergesagt: „Ich hab’ hier bloß ein Amt und keine Meinung.“

In der Reinsburgstraße wohnten nach dem Zweiten Weltkrieg von den Nazis verschleppte Juden und Arbeiter aus Polen und der Sowjetunion; die Amerikaner führten sie unter der Bezeichnung „Displaced Persons“. Am 29. März 1946 stürmten deutsche Polizisten auf der Suche nach Schwarzmarktware und Diebesgut die Häuser. Es kam zu einem Kampf, und ein Polizist schoss den Juden Zmuslek Danziger in den Kopf. Herr Danziger, eben erst aus Paris zu seiner Familie nach Stuttgart zurückgekehrt, war tot. Die US-Militärs verboten daraufhin den deutschen Cops, das Gelände je wieder allein zu betreten.

Von dieser Geschichte hatte ich schon öfter gehört. Es ist keine Weihnachtsgeschichte. Ich weiß nicht so viel über die Reinsburgstraße. Lange habe ich nicht mal gewusst, dass die Karlshöhe noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Reinsburghügel hieß. Es gäbe noch einiges zu erforschen und zu erzählen. Eigentlich aber wollte ich in der Reinsburgstraße nur ein paar Meter in diese Weihnachtserwartung hineinstiefeln, von der die Dame sprach. Bei Dunkelheit wirken manche Straßen, als hätte man sie erst vor kurzem ausgegraben, als gehörten sie nicht zur Gegenwart.

Ähnlich gestaltet sich für viele Leute Weihnachten. Ihre Weihnachtserwartungen sind geprägt von den alten Geschichten. Sie graben Erinnerungen aus und ducken sich im Kerzenlicht eines Tannenbaums für ein paar Stunden weg aus der Gegenwart.

Vielleicht aber ist es gar nicht wahr, was ich sage. Alte Märchen sind zeitlos. Zweihundert Jahre nach dem Erscheinen von Grimms Märchen und zweitausendzwölf Jahre nach der Geburt Jesus Christi bin ich auf ein Buch mit persischen Märchen gestoßen. Es lag in einem Schnäppchenkorb vor dem Kiosk im Königsbau und war billig; persische Märchen sind nicht so ­gefragt wie die Märchen der Grimms. Sie tragen dafür hübsche Titel wie „Gänsesuppe mit Hindernissen“, „Bohlul und die eisenfressenden Mäuse“ oder „Der Furz aus Varamin“. Oft beginnen die persischen Geschichten wie Grimms Märchen mit „Es war einmal“. Häufig aber auch mit den Worten: „Einer war, einer war nicht“.

Ich werde an Weihnachten die Rolle des „Einer war nicht“ übernehmen. Dieser Job scheint mir angenehmer als der des „Einer war“. Womöglich war in Wahrheit nichts, und es war Weihnachten. Falls Sie immer noch auf meine Weihnachtsgeschichte warten, sage ich Ihnen in aller Freundschaft, wie es ist: Mir schenkt auch keiner was.



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