Bauers Depeschen


Mittwoch, 07. Dezember 2011, 828. Depesche



DIE AKTUELLE STN-KOLUMNE über die Zeit und das Gras.



SOUNDTRACK DES TAGES



MARKT AM VOGELSANG:

FLANEURSALON mit ERIC, DACIA, TOBA

Der Vorverkauf für unseren ersten Flaneursalon im neuen Jahr läuft bereits - am Samstag, 21. Januar (20 Uhr), sind wir im Markt am Vogelsang zu Gast. Das Karten-Kontigent ist begrenzt: Etwa 150 Besucher haben Platz. Wir spielen auf einer kleinen Bühne im Erdgeschoss, mitten in der offenen, bewirteten Markthalle. Es ist die erste Veranstaltung an diesem schönen Bio-Ort im Westen, vormals als Bauernmarkthalle bekannt. Im Flaneursalon-Aufgebot sind Eric Gauthier & Jens-Peter Abele, Dacia Bridges & Alex Scholpp sowie der Klasse-Rapper Tobias Borke mit seinem Beatboxer Pheel. HIER GEHT ES ZUM VORVERKAUF



Am Donnerstag gibt es eine neue Kolumne, hier als Zwischendiät eine kleine Straßenbahn-Anekdote aus dem Jahr 2003:



NEAR BOUBLINGEN

In meiner Verzweiflung blieb ich sitzen bis zum Ende. Das Ende hieß Hauptfriedhof. Ich dachte, wenn du heute unter den Lebenden keinen triffst, der dir etwas über diese Stadt erzählen kann, dann bei den Toten. Als die Bahn hielt, hatte ich keine Lust mehr, am Hauptfriedhof auszusteigen, falls Sie wissen, wo das ist. Das war früher die Endstation der Linie 2, ein ganzes Stück hinter Bad Cannstatt.

Es war hundekalt, und alles was ich sah, war ein gelber Bagger, der bei dieser Hundekälte zu baggern schien. Ich wollte mich an diesem Tag nicht mit einem Schaufelbagger unterhalten, auch wenn ein Schaufelbagger vielleicht etwas wüsste über das Leben, wenn er am Hauptfriedhof baggerte.

Trotzig blieb ich sitzen, ich wollte warten, bis die Bahn zurückfuhr. Wenn ich sitzen bliebe, dachte ich, könnte ich vielleicht den Fahrer provozieren. Er würde womöglich annehmen, ich hätte keine Fahrkarte und bliebe, weil es draußen kalt war, einfach sitzen wie ein Penner. Der Fahrer aber scherte sich einen Dreck um mich.

Ich war allein.

Nach ein paar Minuten stieg ein Paar ein, Frau und Mann, ein älteres Paar. Der Mann studierte über meinem Sitz die Schautafel mit den Bahnlinien. Er fuhr in der Luft mit dem Zeigefinger Linien entlang und sprach mit seiner Partnerin, die aussah, als sei sie seine Ehefrau. Wenn Frau und Mann lange zusammenleben, sehen sie immer aus wie Ehefrau und Ehemann. Ein Single, der lange als Single lebt, sieht immer aus wie ein Single.

Das Paar, vermutlich Ehefrau und Ehemann sprach Amerikanisch. Ich glaubte, eine gewisse Ratlosigkeit herauszuhören. Ich fragte, ob ich helfen könne, ob sie mir sagen wollten, wohin sie wollten, sofern ein Amerikaner noch gewillt sei, einem Deutschen zu sagen, wo er hin wolle. Der Mann sagte, sie wollten zu Mercedes-Benz; er sagte Mercedes-Benz, und nicht etwa DaimlerChrysler. Ich fragte: Untertürkheim? Mir fiel ein, dass ich es mit Amerikanern zu tun hatte und wiederholte so spontan wie weltmännisch: Underturkheim. Andertörkheim.

Nein, sagte der Amerikaner, der für das Paar die Sprecherrolle übernommen hatte, not Andertörkheim. Boublingen! Ich reagierte blitzkriegartig: Böblingen? Yeah, sagte der Amerikaner, Boublingen. Es war klar, dass das amerikanische Paar auf der falschen Linie fuhr. Ich erinnerte mich an eine Nummer von Duke Ellington, der uns viel amerikanische Kultur beigebracht hat, sagte mit hochgezogenem Mundwinkel: „Take the S-Train“ – und verbesserte mich rasch: „Take the S-Bahn.“ Dabei achtete ich sorgsam darauf, dass ich diesen Satz nicht „Teik se Es-Bahn“, sondern schulkorrekt „Teik si ,Es' Bahn“ aussprach. Ich sagte sogar: „Teik si Es-Bahn to Boublingen/Herrenberg.“

Ds half. Der Amerikaner fand seine S-Bahn-Linie, sie war mit Grünton auf der Schautafel an der Waggondecke gedruckt, und er war sichtlich erleichtert. Sichtlich insofern, als er seiner Frau lächelnd zunickte.

Anschließend schaute er wieder mich an: „Is Boublingen near Singelfidschen?“ „Yes, Sir“, antwortete ich, „ich möchte fast sagen, Sir, Boublingen und Singelfidschen sind one town.“ Damit hatte ich endgültig gewonnen. „Thank you for your help“, sagte der Amerikaner.

„Vergelt’s Gott“, antwortete ich und lehnte mich zurück.

Als die Bahn am Hauptfriedhof losfuhr, wusste ich, dass Boublingen, Singelfidschen und ich kurz vor dem Durchbruch in Amerika standen. Pech war, dass zwei Tage später der Krieg im Irak begann.



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