Bauers DepeschenDonnerstag, 15. April 2010, 484. DepescheFLANEURSALON am Mittwoch, 28. April, mit Stefan Hiss, Michael Gaedt, Dacia Bridges & Alex Scholpp in der ROSENAU. Beginn: 20 Uhr. Es gibt noch Karten. JOE BAUER IN DER STADT - DIE STN-KOLUMNEN LESERSALON E-Mail- „Kontakt“ Friendly Fire: www.kessel.tv www.edition-tiamat.de (Hier gibt es mein aktuelles Buch "Schwaben, Schwafler Ehrenmänner - Spazieren und vor die Hunde gehen in Stuttgart") www.bittermann.edition-tiamat.de (mit der Fußball-Kolumne "Blutgrätsche") www.unsere-stadt.org BETR.: BRANDSTIFTER Dieser Tage hat mir ein Zeitungsleser schriftlich mitgeteilt, für die Sachbeschädigungen im Umfeld der neuen Stuttgart-21-Werbeagentur sei ich als "geistiger Brandstifter" mitverantwortlich. Heute verschwinde ich für einige Tage ins Ruhrgebiet und hinterlasse einen kleinen Text aus dem Jahr 2002, den ich früher gern im Flaneursalon vorgelesen habe: RESERVIERT FÜR CHARLY Es ist vieles verboten an diesem Ort. "Unbefugten" das Betreten des Weges, und denen, die ihn trotzdem betreten, das Überqueren der Gleise. Das steht in mehreren Sprachen auf einem verwitterten Metallschild: "Prekoracenje kolosjekov, Es prohibido de cruzar las vias, E proibito attraversare i binari". Kein Mensch könnte mich hier aufspüren, es gibt keine Lebenszeichen, außer frischen Fußspuren im Schnee. Vielleicht sind die Spuren auch alt, ich weiß es nicht, ich besitze weder eine Indianer- noch eine FBI-Ausbildung. Ich bin, bei Licht betrachtet, im farbigsten Hinterhof der Stadt gelandet, nirgendwo ist das Fremde näher. Sonntagmittag am Stuttgarter Nordbahnhof, bei den prächtigen monumentalen Eisenbahnbrücken. Bevor ich Richtung Brücken ging, war ich wie immer an der Straßenbahnhaltestelle Mittnachtstraße ausgestiegen. Der Name gefällt mir, klingt wie Midnight Gambler. In der Tat hat ein Wettbüro geöffnet, die Straße aber ist nach einem Politiker benannt: Dr. Hermann Freiherr von Mittnacht, Ministerpräsident von 1870 bis 1900, auch Chef des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten, einer wie Joschka Fischer, mit besserem Leumund. Wo das Überschreiten der Gleise verboten ist, sieht es aus wie nach einem Eisenbahnüberfall. Die Leichen tief vergraben, die Überlebenden geflohen. Auf den Gleisen Schrott-Waggons, einer mit Satellitenschüssel, ein anderer mit Anspruch auf Exklusivität: "Reserviert für Charly". An der Brücke hängt ein Modellflugzeug, groß genug für einen ausgeflippten Schneider von Ulm. Die Geschichte der Waggons, ihrer Bewohner werde ich an dieser Stelle nicht klären. Soll die stillgelegte Welt ihre Geheimnisse behalten, bis die Aufräumer kommen. Vor den besprühten Eisenbahnwagen liegen Konservendosen, Fernseher, ein Fahrrad. Schrebergartenmobilar, zurückgelassen auf der Flucht vor Banditen und Stuttgart-21-Planern. An einer Mauer hängen leere Briefkästen, auf einem steht: "Sammelpost Business Plaza Stuttgart North". Es herrscht Stil. Nahe der Wagenburg ein evakuiertes Haus mit Eiszapfen an der durchlöcherten Dachrinne, jemand hat ein Schild angebracht: "Stuttgart 22". Humor auf der dunklen Seite des Quartiers, fern der Nordbahnhofstraße mit ihren Kneipen, wo die Halbe Bier zwei Euro und der Schnaps einssechzig kosten. Als ich jung war, hätte ich gern in einem Eisenbahnwagen gewohnt, lieber noch als auf einem Floß auf dem Mississippi. In Erich Kästners Buch "Das fliegende Klassenzimmer" gibt es einen merkwürdigen Typen, die Kinder nennen ihn "Nichtraucher"; er lebt in einem ausrangierten Nichtraucherabteil und raucht vor der Tür seine Pfeife. Ein Arzt, der sich von den Spießern verabschiedet hat. Sebastian Koch aus Obertürkheim hat den Nichtraucher vor einigen Jahren im Kino gespielt. Ich kann mich an eine Familie in meinem Heimatdorf erinnern, die noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg in einem Eisenbahnwagen gewohnt hat; irgendwann haben diese Leute um ihren Waggon herum ein kleines Haus mit festen Mauern gebaut. Ich verlasse die Gleise, nehme den Weg vorbei an der Firma Jürgen Karle - Schrott und Metalle. Weiter vorn, an der Kirche neben dem Friedhof und der Zufahrtstraße ("frei" für Gärtner und "Leichentransport") erinnert ein Schild daran, wie jüdische Opfer "unter den Augen der evangelischen Martinsgemeinde" in die Vernichtungslager der Nazis deportiert wurden. Die toten Gleise am Nordbahnhof führen zu vielen Geschichten, und die Unbefugten wissen, was da läuft. Wo ist Charly? |
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