Bauers DepeschenSamstag, 16. Januar 2010, 428. DepescheNächster Flaneursalon: Mittwoch, 24. Februar, Theater Rampe Karten: 0711 / 620 09 09 - 16. Kolumnen in den Stuttgarter Nachrichten BETR.: TEXTE GESUCHT – FOLGE 7 In der Depesche vom 5. Januar habe ich angekündigt, etwa zwei Wochen lang Texte von fremden Autoren (Depeschen-Lesern) auf meine Seite zu stellen, weil ich selbst nicht tippen darf, rechter Arm geschient. Die mir gemailten Beiträge werden nicht verändert oder korrigiert. Jeder kann mitmachen. Kommentare sind erwünscht, das Ding heißt INTERnet und nicht dead end street: „Kontakt“ Heute ein Beitrag von Ilka Beck. Sie studiert Werbung/Marktkommunikation an der Hochschule der Medien Stuttgart (HdM), wo ich als Lehrbeauftragter „Journalistische Stilformen“ unterrichte. Frau Beck schrieb den Text 2009 nach einer sogenannten Exkursion der Studenten ins Stuttgarter Theaterhaus. Der Besuch diente unter anderem der Auseinandersetzung mit Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Hier geht es um etwas anderes: WASTED GERMAN YOUTH Ein Abend im Theaterhaus Stuttgart VON ILKA BECK Es ist früher Abend und bald wird es dunkel werden. Wir fahren mit der Linie U15 Richtung Zuffenhausen. Die Waggons sind voll und es ist laut. Eigentlich hätte ich jetzt frei und würde mit der genauso überfüllten S1 Richtung Plochingen fahren. Zusammen mit einer Handvoll anderer Werbestudenten der Hochschule der Medien, die sich alle wie immer leicht unmotiviert zum Pflichtprogramm schleppen, befinde ich mich aber auf dem Weg ins Stuttgarter Theaterhaus. Wir wollen uns an diesem Abend mit dem Leiter Werner Schretzmeier unterhalten und im Anschluss „Four Play“, die neueste Produktion des Tanzensembles „Gauthier Dance“ anschauen. Einige Studenten haben sich im Gegensatz zu mir im Voraus über das Stück kundig gemacht und versichern, dass dieses „wahnsinnig gut“ sei. Genau dieselben werden jedoch später bei der ersten Gelegenheit erstaunlich schnell verschwinden, weil ihnen Tanz „irgendwie nicht so“ liegt. Ich wünschte ich hätte auf dem Hinweg niemanden getroffen, dann müsste ich mir jetzt auch kein beeindruckendes Halbwissen anhören und könnte in Ruhe die anderen Fahrgäste beobachten. An der Haltestelle Pragsattel steigen wir aus. Es hat angefangen zu regnen, was zu meinem Ärgernis durch hysterisches Gejammer einiger Kommilitoninnen kommentiert wird und erst im Foyer ein Ende findet. Der Eingangsbereich ist noch leer und unser Dozent lässt uns warten, was einige zu wilden Spekulationen antreibt. Ich habe keine Lust mehr zuzuhören und frage mich, was mich an diesem Abend wohl erwarten mag. Da das Stuttgarter Theaterhaus als soziokulturelles Zentrum „sehr professionell“ geworden sein soll, gehe ich von einem Standardvortrag über die Geschichte des Hauses mit anschließender Diskussionsrunde aus. Als Student bekommt man an jeder Ecke solche Vorträge geboten. Diese können zwar bisweilen sehr informativ sein, faszinierend sind sie jedoch nie und tatsächlich diskutiert wird sowieso nicht, dafür müssten die Studenten vorbereitet oder aber zumindest interessiert sein. Mir kommt der Satz „wasted german youth“ in den Sinn, der mittlerweile an jede zweite Hauswand in Berlin gesprayt wurde und stelle mir vor, wie sich unser Dozent nach dem Vortrag zusammen mit Schretzmeier über unsere Generation ärgert, deren einziges Talent es ist, bei Vorträgen unauffällig dreinzuschauen, um ja nicht angesprochen oder gar etwas gefragt zu werden. Wenig später wird uns zwar tatsächlich anhand der Geschichte des Hauses erläutert wie sich ein so unkonventionelles Modell wie das Theaterhaus im zur Gründungszeit politisch sehr rückständigen Stuttgart durchsetzen konnte, aber auf eine Art und Weise, die ich nicht erwartet habe und die mich zunächst eher verwirrt. Wie das Theaterhaus selbst ist Werner Schretzmeier, Gründer und Leiter des Stuttgarter Theaterhauses, authentisch und gibt sich erst gar nicht die Mühe so zu tun als sei er vorbereitet oder als liege seinen Ausführungen irgendeine Struktur zu Grunde. In einer alles anderen als chronologischen Reihenfolge erzählt er die Erfolgsgeschichte des Hauses von der Gründung als politisch-kulturelle Manufaktur 1968, über die Weiterentwicklung zum Theater vor 25 Jahren in Wangen bis hin zum heutigen, soziokulturellen Zentrum in Stuttgart „getragen von seinen eigenen individuellen Ansprüchen“. Ja, früher war man noch politisch engagiert und interessierte sich für die Welt. Je mehr Schretzmeier erzählt, desto mehr beginne ich mich für die eigene Generation zu schämen. Nur wenige stellen Fragen und so richtig zufrieden scheint keiner mit der Situation zu sein. Aber wie soll man heute mit einem eingefleischten 68er mithalten, der Solidaritätskonzerte noch selbst organisiert hat? Da Schretzmeier kein Mann der großen Worte zu sein scheint, beendet er recht nüchtern die Runde, um uns noch schnell die Karten für das Stück „Four Play“ zu besorgen. Vielleicht will er das ganze Spektakel aber auch einfach schnell über die Bühne bringen, um sich wichtigeren Dingen zu widmen als irgendwelchen Studenten Dinge zu erzählen, für die sie sich scheinbar nicht begeistern können. Das Stück gefällt mir ausgesprochen gut. Anscheinend hat es sich gelohnt heute noch zum Pragsattel zu fahren. Das sehen viele der anderen aber wohl nicht so, denn das Ende des Stückes schaue ich mir nur noch zusammen mit einigen wenigen Kommilitoninnen an. Vielleicht liegt es daran, dass in vier von den fünf Stücken, die gezeigt werden, der Tanz einsetzt ehe die Musik zugespielt wird. Man kann unserer Generation schließlich nicht alles zumuten. Als ich auf dem Heimweg endlich allein in der S1 sitze, schaue ich aus dem Fenster und lausche den Gesprächen der anderen Fahrgäste. „Früher bist du viel öfter mit mir ausgegangen. Seit du in Rente bist hast du dich so verändert, du gibt’s dir gar keine Mühe mehr“ höre ich vor mir eine Frau zu ihrem Mann sagen. Da fällt mir wieder Werner Schretzmeier ein. Dieser hat sich über die Jahre, und es müssen einige gewesen sein, vermutlich nicht sonderlich verändert, zumindest was Einstellungen und Überzeugungen betrifft. Auch dem Konzept des Theaterhauses scheint er immer treu geblieben zu sein. Und plötzlich wird mir bewusst, dass seine etwas labyrinthischen Ausführungen über das Theaterhaus nicht besser zu diesem hätten passen können. Ein gewöhnlicher Vortrag hätte mir sicherlich kein Gefühl dafür verleihen können, was das Stuttgarter Theaterhaus überhaupt ist, vor welchem Hintergrund es entstanden ist und was es so einzigartig macht. Ich erinnere mich an ein Interview mit dem Direktor der Akademie Schloss Solitude, Prof. Joly, der sich ein Stuttgart ohne das Theaterhaus nicht mehr vorstellen kann und frage mich, ob das auch für nur einen Studenten meiner Generation zutrifft. Vor mir sehe ich, wie sich der Mann, der sich keine Mühe mehr gibt, genervt von seiner Frau abwendet und sich einer Zeitung widmet, die er zwischen den Sitzen hervor gefischt hat. Bald darauf ertönt die Durchsage „Endstation, bitte alle aussteigen“ und ich verlasse wie es von mir erwartet wird die S-Bahn. Während ich durch den Bahnhof laufe, vorbei an ein paar betrunkenen, eindeutig noch schulpflichtigen Jugendlichen, nehme ich mir vor, das Stuttgarter Theaterhaus in Zukunft öfter zu besuchen und sei es nur, um der „wasted german youth“ zu trotzen. „Kontakt“ |
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