WILLKOMMEN!
Liebe Besucher:innen, zunächst wieder der Hinweis auf den bevorstehenden Flaneursalon am Fluss im Stuttgarter Neckarhafen (der Vorverkauf ist immer noch enttäuschend): hier der Link zu Infos & Tickets
Und wie versprochen: Nach meinem Abschied von der Kontext:Wochenzeitung versuche ich, regelmäßig auf der Depeschenseite meine kleine Website Story zu schreiben – hier die neueste:
Die Homepage-Kolumne (3)
DER WIND VON OKLAHOMA
Im Juni war es so heiß, dass ich mich weigerte, auf die Straße zu gehen. Höchstens kurz zum Bäcker Nast gegenüber und zum arabischen Al Sendiebad Markt in der Nachbarschaft. In meinem Alter kann es leicht passieren, im Klimawandel auf der Strecke zu bleiben. Für immer.
Doch muss ich raus, ob ich will oder nicht. Trotz der dringenden Appelle unserer Regierung lagert bei mir, abgesehen von Leitungswasser, kein Proviant im Haus. Lediglich ein Transistorradio von Grundig, Made in China, ist auf Anraten kriegstüchtiger Experten in meinem Besitz. Damit ich bei Stromausfall erfahre, wann es Zeit ist, in den Keller zu gehen.
Als gelernter Pessimist und Hobby-Schwarzseher habe ich die Untergangsszenarien unserer Tage viel zu oft vor Augen, manchmal träume ich davon. Ich beneide die Menschen in der Stadt, die in Massen im Freien sitzen und das Leben genießen. Überall dröhnen Bluetooth-Boxen. Trotz aller Hochrüstungspolitik, trotz aller Kriege und entsprechender Drohungen scheint bei uns eine große Unbedarftheit oder Unbekümmertheit zu herrschen. Nicht zu verwechseln mit diesem Tanz-auf-dem-Vulkan-Trip, dem sich Menschen im Angesicht der Bombe hingeben. Diese Leute sind nicht gemeint, wenn die großen Social-Media-Ideologen unserer Tage von „Friedensverwahrlosung“ sprechen. Der Vorwurf gilt denen, die nie in Kampfuniform ihr Leben riskieren mussten und sich dennoch erlauben, Hochrüstung und militärische Aktionen als einzige Lösung der Konflikte mit Skepsis zu betrachten. Sie sind drecksarbeitsscheu.
Ich war nie pazifistisch geprägt. Rechtzeitig wurde mir beigebracht, dass es der Roten Armee kaum möglich gewesen wäre, Auschwitz mit dem Schwenken weißer Bettlaken zu befreien. Vielleicht beseelte mich die große Friedfertigkeit auch deshalb nicht, weil ich als Grünschnabel mit Filmen sozialisiert wurde, in denen Menschenleben oft nur für Sargtischler einen Wert hatten. Dies allerdings ist eher eine Freud’sche Angelegenheit. Heute bilde ich mir ein, die Kinoästhetik meiner frühen Jahre etwas besser zu verstehen als in der Phase, da es einiger Übung bedurfte, ein Zigarillo freihändig von einem Mundwinkel in den anderen wandern zu lassen.
Allerdings, und nicht erst seit meiner Clausewitz-Lektüre, neige ich beim Blick auf Informationen aus Kriegen und bei der Beurteilung militärischer Aktionen zu Zweifeln. Und diese Art Zögerlichkeit gilt verbalen Klare-Front-Kriegern, die alles über die Zukunft wissen, als Verrat.
Neulich habe ich, angetrieben von verbalen Social-Media-Kriegen zum Thema Ukraine/Russland/Israel/Gaza/Iran/USA/Europa usw. diese Zeilen in mein Taschentelefon getippt und auf Facebook gepostet:
Fanatismus, vom Fanatiker „Wahrheit“ genannt, ist ein Produkt mangelnden Zweifels. Wer am Fanatismus des Fanatikers zweifelt und zur Differenzierung neigt, leidet an „Realitätsverlust“ – und ist in der Regel Teil „der Linken“ (gleich „die Rechten“). Realitätssinn hat, wer fanatisch genug ist, seine Mutmaßungen für unfehlbar zu halten. Ein Nebenprodukt des Fanatismus ist von Spott und Hohn gefütterte Überheblichkeit, in der sich gern Ranwanzer sonnen, deren Unterstützung der einzig wahren Sache sich auf FB-Kommentare beschränkt. Zusammen sind sie die Guten im Kampf gegen das Böse. Totalen Realitätsverlust beweist bei dieser Betrachtung: der Verfasser. Ende.
Vielleicht nur eine Wortspielerei, womöglich aber auch der Versuch, etwas loszuwerden, etwas abzuschütteln.
Die Hitzetage dürfen kein Grund sein, meine Spaziergänge einzustellen. Wo sie hinführen, spielt keine Rolle. In meiner Nachbarschaft kann ich hundertmal dieselbe Strecke vor- und rückwärtsgehen und dennoch immer wieder Neues entdecken. Ich wohne oberhalb der Neckarstraße, wo einst der Fußballplatz der Stuttgarter Kickers war, ehe er vor 120 Jahren auf die Degerlocher Waldau verlegt wurde. Als junger Kerl habe ich mitbekommen, wie auswärtige Reporter ihrem Publikum mitteilten, die Kickers seien „IM Degerloch“ zu Hause. Vermutlich wie der HSV auf der Hamburg thront und die Borussia im Gladbach schwimmt. Degerloch, dialektmäßig korrekt „Dägerloch“ ausgesprochen, stammt vom althochdeutschen „Tegerlohe“ ab und bedeutet „dichter Wald“. Hat also mit dem „Loch“ nichts zu tun. Von Degerloch aus gesehen ist eher Stuttgart ein Loch, in dem der VfB spielt.
Die Tegerlohe-Erkenntnis ist längst kalter Kaffee, nicht so dagegen eine sehr kleine Imbissbude in der Neckarstraße, die unlängst wiedereröffnet wurde – „nach 30 Jahren“, steht auf dem Schild vor der Tür. Die Versorgungsstation heißt „Hotdogle“. Dabei handelt es sich nicht um einen Tippfehler meinerseits, sondern um eine schwäbisch-amerikanische Wortkombination, die dazu verleiten könnte, sie so auszusprechen: „Hattdogl“, Hattdokel oder Hattdakel. Kling ein wenig wie Halbdackel bzw. Halbdaggl, aber diese Wahrnehmung ist allein meinen fragwürdigen Assoziationen zuzuschreiben. Wobei nicht unerwähnt bleiben darf, dass im Stuttgarter Altstadtmilieu früher „Halbdaggl“ eine viel schlimmere Beleidigung als „Arschloch“ war.
Inzwischen habe ich mich schon einige Male im Hotdogle notversorgt. Und bevor ich wieder mal der Beihilfe zum Tiermassenmord beschuldigt werde, der sachdienliche Hinweis: Das Hot-Dog-Würstchen gibt es neben der Rinder- und Geflügelversion auch in der Vegan-Fassung. Seine amerikanische Herkunft wird dir in der Neckarstraße besonders bewusst, weil du dich daneben im Studio „USA Nails“ renovieren lassen kannst. Was gibt es Schöneres als einen US-amerikanisch lackierten Zehennagel und eine warme Wurscht mit allem.
Der Hotdog wird in unterschiedlichen Varianten offeriert: als „Original“, als „Krautkick“, als „Gschmälzte“. Besonders der Untertitel der zuletzt erwähnten Sorte mit Ketchup, Senf, Spezialsoße, karamellisierten Zwiebeln, Jalapenos und Gurken hat es mir angetan: „Oklahoma Style“.
Der Bundesstaat Oklahoma auf ehemaligem Indigenenterritorium im Süden der USA hat eine schlimme Geschichte der Vertreibung und eine ernüchternde Gegenwart der Verrohung: Bei der jüngsten Wahl erhielt Trump 66 Prozent der Stimmen.
Aber das war es nicht, was mir beim Kauf eines Hotdogs „Oklahoma Style“ im Kopf herumging. Vielmehr eine Hamburger Independent-Band, die es seit 20 Jahren nicht mehr gibt. Sie hieß Fink und spielte sehr schöne Country-Songs mit melancholischen, deutschen Texten. Ein Freund, der Dichter Wiglaf Droste, hat mich in den Neunzigerjahren auf sie aufmerksam gemacht. Bis heute habe ich etliche Fink-Platten, die ich früher oft hörte, vor allem nachts, und bis heute habe ich den Refrain eines Liedes im Ohr:
Der Wind in Oklahoma ist der gleiche
Wie hier nur er gehört nach Oklahoma
In Oklahoma trägt der Wind die Schwalben
Genau so sicher wie hier
Das Lied heißt „Oklahoma“. Sänger und Songschreiber von Fink war Nils Koppruch, der auch als bildender Künstler arbeitete und nach der Auflösung der Band solo und im Duo mit Gisbert zu Knyphausen musizierte. 2012 starb er mit 46 Jahren an einer Herzmuskelentzündung.
Anfang des neuen Jahrtausends, vielleicht war es auch schon früher, stellte mir meine Zeitung einen Laptop als Dauerleihgabe zur Verfügung. Während einer Eisenbahnfahrt von Berlin nach Stuttgart taufte ich ihn „Fink“ – und baute ihn von Zeit zu Zeit (und lange vor KI) als sprechenden Begleiter und Prügelknaben in meine StN-Kolumnen ein. Auf diese Art wollte ich Dialoge in meinen Texten unterbringen, und es gab nicht wenige Leser:innen, die diesen Unfug mochten. Ich erhielt viele Briefe mit Beschwerden über meinen rüden Umgang mit Fink. Mein eigener Zustand interessierte seinerzeit weit weniger.
Merkwürdig, was ein Hotdog aus der Neckarstraße alles zu Tage fördert. Diese verdammten alten Lieder, die mir der Wind zuträgt.
Song: OKLAHOMA
KOLUMNE 2: Gliedererfrischendes Baden im Neckar
KOLUMNE 1: Abschaum und Asphalt
Und hier, zum besseren Verständnis, eine kleine Fink-Kolumne von 2008:
DREIHUNDERT PROZENT
Es war ein kalter Morgen am Hölderlinplatz. Ich hatte keine Lust, Kaffee zu kochen. Ich bin kein Frühstücksmensch. Manchmal schlürfe ich die gekühlte Zuckerbrühe aus der Blechdose. Die Brühe heißt Mr Brown, es gibt sie beim Bäcker, die Barbarei in diesem Land beschränkt sich nicht auf schlechte Brezeln.
Ein Zettel lag auf der Theke der Bäckerei: „Sehr geehrte Kunden . . .“
„Was bedeutet sehr geehrte Kunden?“, fragte Fink jr., mein Laptop. „Das bedeutet, dass man keine blöden Fragen stellen soll“, sagte ich.
Die Getreidepreise, stand auf dem Zettel, seien um dreihundert Prozent gestiegen, das Mehl um das Zweieinhalbfache teurer geworden und der Molkereipreis sowieso. Die Bäckerei sehe sich „leider gezwungen“, eine „Preiserhöhung in einer Größenordnung, die wir in den letzten 10 Jahren nicht mehr gewohnt waren, durchzuführen“. Und dann stand da noch: „Wir hoffen auf Ihr Verständnis und würden uns freuen, Sie weiterhin als unsere Kunden begrüßen zu dürfen.“
„Sie haben uns doch bereits als sehr geehrte Kunden begrüßt“, sagte Fink jr. „Das verstehst du nicht“, sagte ich und zeigte mit dem Daumen auf die „Bild“-Schlagzeile im Zeitungsständer: „Deutsche“, war dort zu lesen, „Deutsche immer dümmer!“ „Ich bin kein Deutscher“, sagte Fink jr. „Ich komme aus dem Hause Dell, Texas, USA.“
„Die Amis sind schuld“, sagte ich. „Wenn das Mehl um dreihundert Prozent teurer geworden ist, kann nur ein verdammter amerikanischer Mehlsack dahinterstecken. George Bush jr. wird uns alle in die Barbarei treiben.“ Ich schüttete Fink jr. den kompletten Mr Brown über den Kopf.
Diese politische Aktion war nicht gerechtfertigt. Die braune Zuckerbrühe kommt nicht aus Amerika, sie sieht nur so aus. „Fink junior, weine nicht“, sagte ich, „wir müssen kämpfen.“ Ich warf Mr Brown in den Mülleimer, ließ mir eine Brezel geben und legte dreihundert Dollar und siebzig Cent auf die Theke.
„So gut war der Kaffee seit zehn Jahren nicht“, sagte ich. „Der Kunde Fink junior fühlt sich sehr geehrt“, sagte Fink jr. Dann gingen wir in Rosis Pinte und traten in den Hungerstreik. Bald darauf wurde am Hölderlinplatz die LBBW-Bank überfallen.