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2533. Depesche
5. Juni 2025

2534. Depesche

WILLKOMMEN!

Liebe Besucher:innen, von heute an werde ich versuchen, einigermaßen regelmäßig die Homepage-Kolumne zu schreiben – eine Website Story sozusagen, die nur auf dieser Depeschenseite zu lesen ist. (Ich freue mich natürlich, wenn die Texte im kleinen Kreis verbreitet werden. Wer etwas dazu sagen möchte: flaneursalon@joebauer.de) – Bitteschön:

Die Homepage-Kolumne (2)

GLIEDERERFRISCHENDES
BADEN IM NECKAR

An einem windigen, verregneten Junimorgen, an dem es nichts zu tun gibt, außer dem Untergang der Menschheit entgegenzusehen, setze ich mich an meinen Rechner und fange an zu tippen. So wie ich es immer gemacht habe, mehr als ein halbes Jahrhundert lang. Immer etwas nervös, als würde jemand stressgeplagt auf mein Zeug warten, um es in der Zeitung zu veröffentlichen. 

Diesen Text hier schreibe ich allerdings ohne Auftrag, nur für mich und meine von einsamer Würde und maßloser Kälte beseelte Webseite. Mal testen, ob das überhaupt geht, wenn du keinen Stiefel hinter dir vermutest, der dir demnächst in den Arsch treten wird. 

Vor Kurzem habe ich mich entschieden, nur noch als unbezahlter Hobby-Tipper auf meinem Schreibstuhl ohne Lehne Platz zu nehmen, auf einem sogenannten Swooper. Dieses seltsam gefederte Ding zwingt einen dazu, sich beim halbwegs aufrechten Sitzen so zu bewegen, dass man die Balance hält. Als wäre es in diesen Zeiten noch möglich, sich selbst im Gleichgewicht zu halten. Bekanntlich aber stirbt die Zuversicht zuletzt, weshalb mir in meinem altersbedingten Optimismus immer öfter die alte Weisheit einfällt: Es wäre gut, die Menschheit ginge unter, bevor Schlimmeres passiert.

Schon beeindruckend, wie oft uns das Wort „gehen“ begegnet. Reden wir vom Spazierengehen, der besten Möglichkeit, friedlich dem Untergehen entgegenzugehen. 2024 ist im Insel Verlag ein sehr schönes Buch mit Texten von Rober Walser erschienen: Spazieren muß ich unbedingt. Vom Gehen über Stadt und Land. Das Verb spazieren, hin und wieder hab ich schon darauf hingewiesen, leitet sich vom italienischen spaziare ab: umherschweifen, sich räumlich ausbreiten. Im Nachwort des Buchs schreibt David Wagner: „Spazieren ist antikapitalistisch, weil im materialistischen Sinne unproduktiv, und macht sich in seinen Varianten Herumstreunen und Landstreichen gern verdächtig.“ 

Wie wir aus der Geschichte wissen, können wir durchaus revoltierende Macht haben, wenn wir zu Fuß die Straßen der Stadt erobern. Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts war das Spazieren der Aristokratie vorbehalten, und Frauen durften lange nicht allein auf die Straße, wollten sie nicht als Huren verdächtigt und eingesperrt werden. Also, Männer und Frauen: Geht hinaus, seid materialistisch unproduktiv, aber antikapitalistisch produktiv als renitente Streunerinnen und Streuner. 

Robert Walsers kurze Geschichte mit dem Titel „Spazieren“ im Buch handelt von Tobold, der nicht viel besitzt außer einem schäbigen Hut, und die beginnt so: „Es ging einer spazieren. Er hätte in die Eisenbahn steigen und in die Ferne reisen können, doch er wollte nur in die Nähe wandern. Das Nahe kam ihm bedeutender vor als das bedeutende und wichtige Ferne. Demnach also kam ihm das Unbedeutende bedeutend vor.“ 

Jetzt will ich mir keineswegs etwas anmaßen, in der Regel sind meine Hüte nicht schäbig, aber so ein bisschen fühle ich mich schon wie dieser Tobold, weil mir das Nahe seit je bedeutender vorkommt als das bedeutende Ferne. Etwa wie drüben über dem Teich, wo sie Weltmeisterschaften darin veranstalten, welcher ausländische Politiker sich am besten an den Demokratie-Zerstörer Trump ranwanzen und bei ihm einschleimen kann. Im Englischen heißt Arschkriecher übrigens brown nose.

Zuletzt bin ich, nach reichlich verspäteter Ankunft mit der Eisenbahn, ein paar Tage durch Zürich spaziert. Mein alter Freund, der österreichische Schauspieler Gottfried Breitfuß, hatte mich eingeladen, bei seiner Abschiedsvorstellung nach 20 Jahren am Schauspielhaus Zürich ein paar Worte zu sagen (siehe 2532. Depesche). Gottfried, der vor 2005 auch etliche Jahre am Stuttgarter Staatstheater spielte, ist nicht nur ein famoser Komödiant, sondern auch ein passionierter Spaziergänger und Langstreckenwanderer. 

In Zürich hatte ich schöne Tage. Nicht unbedingt beim Blick auf die Preise, die dir schon das kleinste Imbiss-Würstchen als sündhaften Luxus erscheinen lassen. Es war das humane Klima in einer Stadt der Gelassenheit. Nach der Vorstellung wurde ich im Theaterfoyer von wildfremden Leuten so freundschaftlich behandelt, wie es mir in Stuttgart in fünfzig Jahren nicht passiert ist. Ich bin regelrecht erschrocken. 

Äußerst angenehm fand ich auch das Spazierengehen am Zürichsee, wo der Zugang zum Wasser auf weiter Strecke frei und offen ist. Wenn du schon kein Geld hast und keine Chance, so kannst du dich doch an ruhigen Tagen auf eine Bank am See setzen und entspannt auf den Untergang warten. Oder an einem der schönen eintrittsfreien Strände ein Bad nehmen, das dich mental noch eine Weile über Wasser halten wird. Das Wasser im See hatte Anfang Juni 16, 17 Grad, so viel wie im Freibecken im Bad Berg nach einer kalten Winternacht. Wer aber, frage ich mich, schätzt in Stuttgart schon das eigene Wasser, sei es im Mineralbad oder im Fluss. Vermutlich nur die, denen das Nahe bedeutender vorkommt als das bedeutende und wichtige Ferne, das man mit dem Flugzeug oder einem Stadtpanzer vom Typ SUV ansteuert.

Ein politisch linker, halb so alter Zeitungsredakteur wie ich erzählte mir in Zürich, dass in der reichen Stadt schon mal einige Franken von oben nach unten durchsickern und der politische Kampf um soziale Rechte durchaus Erfolge hat. Wir saßen bei dieser Plauderei im genossenschaftlich betriebenen Café Zähringer, mit Blick auf die Zentralbibliothek, in der einst Lenin aus Simbirsk an der Wolga Hegel aus Stuttgart am Nesenbach studierte. Womöglich, davon müssen wir heute ausgehen, hat er ihn falsch verstanden. 

Es wäre vermessen, nach ein paar Tagen zielloser Streunerei eine Stadt zu beschreiben und zu beurteilen. Eins jedoch will ich nicht vergessen: In Zürich gibt es in der Bahnhofsgegend einen Stadtteil namens Europaallee, der keineswegs zufällig an das Stuttgarter Europaviertel erinnert. Es waren Stadtverschandler aus denselben Geschäftskreisen, die hier am Werk waren; das Züricher Quartier hatte ich, wie sein Frankfurter Pendant, schon früher besucht. Und beim Blick auf diese Art Glas- und Betonklötze gilt nach wie vor: Geld stinkt nicht nur, es sieht auch scheiße aus.

Als ich aus Zürich zurückkam, habe ich die Sammlung der Walser-Texte übers Spazierengehen in der Buchhandlung Erlkoenig im Gerberviertel abgeholt. Es wäre ein Unding, sich dieses Werk woanders zu besorgen. Robert Walser hat 1895/96 bei seinem Bruder, dem Maler Karl Walser, in der heutigen Stuttgarter Gerberstraße gewohnt, also in der Nachbarschaft des Erlkoenigs. Am Haus 2a hängt eine Erinnerungstafel. Robert stand in dieser Unterkunft nicht nur seinem Bruder „als einem Cäsars Leichnam beweinenden Markus Antonius“ Modell. Oft ging er auch mit Karl „durch die Straßen in eine gewisse Gerbergasse hinein“ und schrieb in der „Residenzstadt S …“ (so nennt er Stuttgart) die Geschichte „Die Brüder“. Auszug: „Wir lasen noch nicht Verlaine, aber wir lasen dafür doch Heinrich Heine und Uhland, und die mundeten und schmeckten uns nicht schlecht. War nicht auch das freie gliedererfrischende Baden im Neckar herrlich und beglückte uns nicht in Dorfgasthäusern der Genuß von Birnenmost? Wenn wir vom kühnen Ausmarsch gräßlich staubig und hungrig wieder in unsere Herberge zurückkamen, so bestellten wir ja bekanntlich jeweilen je einen Rostbraten mit gemischtem Salat für die Wanderer und Herren Gebrüder, worüber die ganze Stube höchlich staunte. Soupieren und dinieren große und reiche Herren reicher und besser als wir zwei damals?“ (Höchlich bedeutet: in hohem Maße.)

Und jetzt, liebes Publikum, mache ich Schluss. Nicht generell, nur mit diesem Text. Niemand hat mich verpflichtet, ihn zu schreiben. Ich habe mir einfach in den Arsch getreten, damit was weiter und der Schreiberling wieder spazieren geht.

* Die erste Homepage-Kolumne findet sich in der 2530. Depesche

Und hier geht es zu den Infos & Tickets für den FLANEURSALON AM FLUSS

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