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2582. Depesche
22. Dezember 2025

2583. Depesche

Willkommen!

Liebe Besucher:innen, wie sehr es bei den verbliebenen Menschen, die meine Homepage besuchen, weihnachtet, kann ich nicht wissen. Ich habe so gut wie keinen Kontakt mit euch, den Leser:innen, keine Ahnung, wer ihr seid, was ihr tut, wie ihr meinen Kram findet. Ich setze etwas in die Welt, die bekanntlich klein ist, und es verschwindet im Nichts. Auch wenn es ein Nichts gar nicht gibt. Vielleicht kommt etwas davon irgendwo an, vielleicht in einem Hirn, über dessen Beschaffenheit ich nur mutmaßen kann.

Allen, die noch da sind in der Anonymität des Netzes, wünsche ich hiermit gute Tage zur Weihnachtszeit und in der Zukunft. Bin mir allerdings nicht sicher, ob ich mir gute Wünsche von einem wie mir wünschen würde. Humor haben heißt übrigens nicht, Witze erzählen zu können, sondern die Gabe zu besitzen, die Spielarten des Humors zu verstehen.
DAS IST NICHT LUSTIG! UND WAS LUSTIG IST, BESTIMME ICH! Sagt der Humorbesitzer. Näheres womöglich in Peter von Beckers neuem Albert-Einstein-Buch „Ich bin ein Magnet für alle Verrückten“.

In den vergangenen Monaten habe ich mein Resthirn etwas neu ausgerichtet, nachdem ich Rebecca Solnits Buch „Hoffnung in der Dunkelheit. Unendliche Geschichten, wilde Möglichkeiten“ in einem Hamburger Laden gesehen und gelesen habe. Die US-amerikanische Autorin habe ich früher schon immer wieder in meinen Kolumnen zitiert, weil ich ihr fantastisches Buch „Wanderlust. Eine Geschichte des Gehens“ gelesen habe. Darin erfährt man alles über die historische, die politische Bedeutung der körperlichen und sozialen Bewegung an sich. „Hoffnung in der Dunkelheit“ wiederum erzählt uns über die Bedeutung des Engagements und des Aktivismus in der ganzen Welt. Es beruht auf dem Gedanken, dass wir in der Ungewissheit der Zukunft Hoffnung erkennen, sofern wir handeln. Vor diesem Hintergrund bin ich davon abgekommen, jede Art des politischen Tuns als zynischen Umgang mit der Chancenlosigkeit zu sehen. In diesem Sinne: Noch ist nicht alles verloren.
Und deshalb geht es weiter, auch mit unserem Netzwerk Gemeinsam gegen rechts – für eine bessere Demokratie. Schon für 14. Februar ist die 1. Stuttgarter PRÜF-Demo geplant, an der wir uns organisatorisch beteiligen werden. Siehe LINK – Näheres demnächst.

Und inzwischen werde ich, nach einem heftigen Infekt ausgerechnet während unserer Nacht der Lieder im Theaterhaus, wieder gesund (siehe 2582. Depesche). Und so wünsche ich beste Gesundheit in allen Bereichen allerseits.

FLANEURSALON LIVE
Am Mittwoch, 4. Februar, sind wir in der Rosenau. Es gibt sicher Menschen, die sich über ein Wiedersehen mit Flaneursalon-Gast Gottfried Breitfuß freuen. Der österreichische Schauspieler und Liedersänger hat früher u. a. einige Jahre am Stuttgarter Staatstheater gespielt, bevor er ans Schauspielhaus Zürich wechselte. Unvergessen seine Auftritte zusammen mit Ernst Konarek in der mobilen, vom Staatsschauspiel produzierten Tragikomödie „Indien“, die oft auch in der Rosenau aufgeführt wurde. Im Flaneursalon tritt er zusammen mit dem Stuttgarter Pianisten Peter Weilacher auf. Außerdem auf der Bühne: Cemre Yilmaz & Friends mit sehr schönen Songs. Link zu Infos & Tickets.

Und hier eine Kolumne vom vergangenen Jahr, die noch in „Kontext“ erschienen und inzwischen längst vergessen ist.

TEMPO, TEMPO

Wenn du aus einem der Kinos in der Innenstadt kommst und keine Angst hast, psychisch und physisch bis zum Äußersten zu gehen, kämpfst du dich über den Weihnachtsmarkt. Du bekommst dort für neun Euro einen zwölf Zentimeter langen Spielzeug-Porsche oder achtzig Gramm Dubai-Schokolade. Ich habe mich für das Auto entschieden, weil man damit ein schönes Christian-Lindner-Denkmal bauen kann. Die Dubai-Stimulans dagegen ist eher vergänglich, sofern man mit dem Zuckerzeug seine kannibalistische Gier befriedigt, weil es Engelshaar enthält. 

Zu meiner weiteren Weihnachtsmarktbeute gehören neben dem Porsche ein Pack Lammfellsohlen. Diese Dinger haben gegenüber anderen tierischen Kleidungsstücken den Vorteil, nicht von veganen Ultras erkannt zu werden, solange es mir beim Blick auf die Weihnachtswelt nicht die Schuhe auszieht.

Die Regierung hat vor Beginn der Stuttgarter Glühweindorf-Saison zur Wachsamkeit auf Weihnachtsmärkten aufgerufen. Der Verfassungsschutz halte diese Rummelplätze für ein „ideologisch geeignetes Ziel für islamistisch motivierte Personen“. Sie seien ein „Inbegriff der westlichen Kultur und Lebensweise“. Wie meine antiislamistischen Schutzmaßnahmen aussehen sollen, wurde mir nicht gesagt. So habe ich beschlossen, Glühwein zu meiden: Nur so kann ich im Ernstfall Nikolaus- und Terroristenbärte unterscheiden. 

Nun wissen wir, dass Warnungen vor Gefahren im Stadtleben Konjunktur haben, nicht nur zur Weihnachtszeit. Und Geheimdienstlern sieht man es nach, wenn sie nicht wissen, dass der Begriff „Kultur“ an sich für eine Lebensweise steht, die Koppelung „Kultur und Lebensweise“ also blanker Unsinn ist.

Davon allerdings haben auch die demoskopischen Schlauköpfe nichts gehört, die neulich ermittelten, ob die Menschen im Land wollen, dass „Kultur“ vom Staat finanziell gefördert werden müsse. Gemeint ist in solchen Fällen jedoch nicht die Kultur, sondern immer der Kulturbetrieb, was viele Politiker so wenig unterscheiden wie lokale Leitartikler.

Vor diesem Hintergrund glauben etliche immer noch, der Kulturkampf von rechts mache sich erst dann bemerkbar, wenn Nazis Theatersäle stürmen. Bis heute begreifen sie nicht, dass der völkische Kulturkampf nicht nur den Kulturbetrieb im Visier hat. Angegriffen wird alles, was eine demokratische Lebensweise ausmacht. Im Verfassungsschutzjargon: Demokratische Räume sind ein „ideologisch geeignetes Ziel für faschistisch motivierte Personen“. 

Das Wort „Kultur“ im Zusammenhang mit staatlicher Förderung, generös „Subvention“ genannt, wird ständig so schwammig gebraucht, dass ein großer Teil der Bevölkerung „Kultur“ für einen nicht „systemrelevanten“, also verzichtbaren Zuschussbetrieb halten muss. Weniger lebenswichtig als Dubai-Schokolade, auch wenn hin und wieder eingeräumt wird, dass etwas Unterhaltung und emotionale Gemeinschaftserlebnisse den städtischen Standortfaktor aufwerten. Bringt Umsatz. Dass der Kulturbetrieb, also unsere internationale Kunst und deren artverwandten Disziplinen, Einfluss auf unsere Lebensweise, unser soziales Verhalten und unsere Weltsicht haben, wird von der Politik meist ignoriert. Nebenbei: Kultur haben auch Rechtsextreme und Barbaren.

Ich kann nichts dafür, solche Gedanken kommen mir auf dem Weihnachtsmarkt nach der Mahnung, wachsam zu sein. Keinerlei Warnungen erhält die Bevölkerung hingegen, sich wachsam und wehrhaft auf dem freien Markt zu bewegen. Dort fliegen uns die Folgen von Wohnungsnot und Mietwucher um die Ohren, während die Kosten für Lebensmittel und Energie explodieren und Arbeitsplätze vernichtet werden. Und hat dieser freie Markt als Inbegriff westlicher Kapitalismuskultur wieder mal Schwierigkeiten, streicht die Politik sofort Geld für den Kulturbetrieb – und vernichtet damit Stützpunkte und Räume einer humanen Lebensweise, was die Rechtsextremen und Völkischen freut.

Ich gebe zu, eigentlich ist dieser Politikkram kein Kolumnenstoff vor Weihnachten. Auch deshalb nicht, weil es mir inzwischen scheißegal ist, wie kurz die Beine von Politikerlügen auf dem freien Markt der Charakterlosigkeiten sind. Wesentlich wichtiger war mir zuletzt die Frage, ab welchen Temperaturen es legitim ist, im B-Block der Stuttgarter Kickers neben Schuhwerk mit Lammfellsohlen lange Unterhosen zu tragen. Lange Unterhosen sehe ich als unumstrittenen Inbegriff westlicher Kultur, ohne den Kulturen anderer Himmelsrichtungen das Recht auf diese Beinkleider abzusprechen. Auch wenn dieses Thema etwas maskulin erscheinen mag, denke ich im Unterwäschespektrum weltoffen.

Apropos warme Unterhosen. Eine Zeitlang wurde ich auffallend oft gefragt, ob ich mich schlecht fühle. Meine Texte, sagte man mir, erweckten zunehmend den Eindruck, ich sei der Melancholie verfallen, der berüchtigten „Schwarzgalligkeit“, die aufs Gemüt drückt. Entwarnung: Zuletzt ist es mir gelungen, meine Schwermut angesichts der Weltlage und des nahenden Endes an allen Ecken und Enden mit dem Kauf des Porsches auf dem Weihnachtsmarkt einzudämmen. Ein Rennauto ist der Inbegriff unserer apokalyptischen westlichen Kultur ohne Tempolimit. Und der Geschwindigkeitswahn hat auch großen Einfluss auf die Lebensweise des vom Leben müden Spaziergängers. Jahrelang war ich der Meinung, ich könne mit nur drei bis höchstens fünf Kilometern pro Stunde herumschlendern, um der Welt etwas abzugewinnen – der kleinen Stadt gemächlich ins große Maul zu schauen.

Die Entdeckung der Langsamkeit erlaubt dir, Dinge zu entdecken, die du durchs Fenster eines fahrenden Porsches niemals wahrnehmen kannst, auch nicht bei freiem Blick aus einem Cabrio heraus. Und das ganze Zeug, das ich gerade über demokratische Kultur und lange Unterhosen erzählt habe, fällt mir nur bei gemäßigtem Schritt ein. Mein Hirn ist kein Highway.

Jetzt allerdings haben Forscher der Universität Leicester herausgefunden, dass Menschen, die schneller gehen, länger jung bleiben. Bei dieser Formulierung möchte ich zunächst vor falschen Schlüssen warnen: Menschen, die in unserem Sprachgebrauch „schneller gehen“, sind auch schneller tot. Gone.

Wissenschaftlich läuft die Sache so: Ein von Lammfell getuntes Fußtempo von weniger als 4,83 km/h gilt als langsam. 6,44 Kilometer pro Stunde werden hingegen als schnell eingestuft. Die Geschwindigkeit im gehobenen 6-km/h-Bereich, die der Porsche-Pilot für nicht messbar hält, führt laut Forschung dazu, dass ich wesentlich langsamer altere. Jedenfalls langsamer als alle, die ihren Arsch nicht hochkriegen. Schaffe ich wie bisher mehr als zehntausend Schritte am Tag, bin ich schon mit fünf Kilometern pro Stunde auf einem guten Weg, dem Tod noch eine Weile zu entgehen. Eine höhere Geschwindigkeit wiederum kann laut Wissenschaft sogar bewirken, dass ich biologisch sagenhafte sechzehn Jahre jünger daherkomme. Man stelle sich das vor: Wenn ich, animiert von meinem Weihnachtsmarkt-Porsche, als Beinarbeiter täglich gut durchstarte, bin ich statt 70 erst 54 Jahre alt – und muss womöglich einen Batzen Rente zurückzahlen.

Andererseits möchte ich um nichts in der Welt mit 6,44 Kilometern in der Stunde über den Weihnachtsmarkt stiefeln. Ich käme daher wie eine gesengte Sau, die mit fünf Tafeln gestohlener Dubai-Schokolade in ihrer langen Unterhose vor den Bullen flieht. Und selbst wenn diese, dem freien Markt angepasste Hetzerei als Inbegriff westlicher Kultur durchgeht, sage ich euch als geübter Schwarzgalliger: Es gibt keinen Grund für lebensverlängernde Maßnahmen. Deshalb: mit Todesverachtung, wehendem Engelshaar und fliegender Hoffnung ins Verderben. I Walk The Line.

flaneursalon@joebauer.de

SONG: Must Be Santa

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