In der vorherigen, der 2573. Depesche ist eine Erinnerung an Georg Elser zu lesen. Und zum heutigen Jahrestag der Reichspogromnacht 1938 habe ich eine acht Jahre alte StN-Kolumne von mir aktualisiert:
KOSCHER
Wieder mal half mir der Zufall als Fremdenführer in der eigenen Stadt. Weil ich für einen spontanen Ausflug eine Fahrkarte brauchte, ging ich zum Bahnhof. Hätte ich mir das Ticket wie üblich online mit dem Taschentelefon besorgt, wäre mir etwas entgangen: Lange beobachte ich an diesem Tag, wie die Leute in der Bahnhofshalle achtlos über den Ruhmesstern für Carl Laemmle eilen. Januar 2017. Nach dem Vorbild von Hollywoods Walk of Fame hat man dem legendären Filmproduzenten bei uns ein Zeichen gesetzt: Neben dem Fünfzack mit seinem Namen wirbt ein Plakat für eine Ausstellung im Haus der Geschichte: „Carl Laemmle presents – Ein jüdischer Schwabe erfindet Hollywood“.![]()
Carl Laemmle (ursprünglich Karl Lämmle) wird 1867 im oberschwäbischen Laupheim geboren, in der damals größten jüdischen Gemeinde Württembergs. Als Siebzehnjähriger wandert er in die USA aus. 1912 gründet er in Los Angeles die Universal Studios und steigt zu einem der großen Pioniere des Hollywood-Films auf. Seinem Geburtsort blieb er zeitlebens verbunden, auch mit großzügigen Spenden, und in der Nazi-Diktatur setzte er sich für die Jüdinnen und Juden seiner Heimat ein und bewahrte viele vor der Ermordung.![]()
Es war kurz vor den Holocaust-Gedenkfeiern am 27. Januar, dem Befreiungstag von Auschwitz, als ich an Carl Laemmles Stern im Bahnhof stand und mir Gedanken machte über Vergangenheit und Gegenwart. Erfahrungsgemäß werden uns – und vor allem jungen Menschen – die Ausmaße des Nazi-Terrors erst durch die Konfrontation mit den heute noch sichtbaren Tatorten bewusst. Die Verbrechen tauchen wie Bilder eines Films vor uns auf, wenn wir die Schauplätze sehen, die Häuser, die Fenster, hinten denen Menschen lebten, bis die Nazis kamen.
Die Stolpersteine auf den Gehwegen vor den ehemaligen Wohnungen ermordeter Juden machen die Geschichte besser erfahrbar als Politikerreden. Und es sind die gegenwärtigen Orte des Grauens, die eine emotionale Nähe zum Unfassbaren herstellen – und den Blick auf die Machenschaften der Völkischen und Nazis von heute öffnen..
Wir erleben dies am Stuttgarter Nordbahnhof, am Galgenbuckel vor den Waschküchen der alten Eisenbahner-Hochhäuser, wo der jüdische Finanzrat Joseph Süß Oppenheimer 1738 nach einem antisemitischen Schauprozess 1738 hingerichtet und seine Leiche sechs Jahre lang in einem Käfig ausgestellt wurde. Erst seit 2016 – nach mehreren Künstleraktionen, u. a. mit Harry Walter (1953 bis 2024) – erinnert eine kleine Schautafel an einer der Waschküchen an Oppenheimer. Die Nazis verfälschten und missbrauchten seine Geschichte für Veit Harlans widerlichen Propagandafilm „Jud Süß“.
Ich weiß nicht, ob es empfehlenswert ist, heute den neu gestalteten Stuttgarter Joseph-Süß-Oppenheimer-Platz unterhalb der oberen Königstraße zu besuchen; vor dem Umbau war er eine Schande im Stadtbild. Eingekerkert wurde Oppenheimer einst im Herrenhaus auf dem Marktplatz, wo später das Herrenbekleidungshaus des Nazis Otto Breitling stand. Im Oktober 2025 wurde dort Stuttgarts neues Haus des Tourismus eröffnet.
Nur wenige hundert Meter vom Galgenbuckel im Nordbahnhof-Viertel entfernt, ist seit 2006 die Gedenkstätte „Zeichen der Erinnerung“ an dem Ort, wo mehr als 2600 Juden, Roma und Sinti mit Güterzügen der Reichsbahn in die Vernichtungslager der Nazis deportiert wurden. Auch diese Erinnerungsstätte ist engagierten Bürger:innen zu verdanken, vor allem dem Architekten Roland Ostertag (1931 bis 2018).
Die Vergangenheit wirkt immer bedrohlicher in unsere Gegenwart hinein, und es wundert nicht, dass die einstige Stuttgarter Gestapo-Zentrale, das Hotel Silber am Charlottenplatz nur dank des hartnäckigen Einsatzes einer Initiative als Gedenk- und Lernort eröffnet werden konnte: 2018, mehr als 75 Jahre nach der Nazi-Dikatur. Zu diesem Zeitpunkt saßen schon wieder neue Rassisten und Nazis in unserem Landtag.
Im Hotel Silber wurden einst auch die in Stuttgart lebenden Angehörigen des Widerstandskämpfers Georg Elser festgehalten und verhört. Am 8. November 1939 war sein Attentat auf Hitler im Münchner Bürgerbräukeller gescheitert. Bis 1993 dauerte es, ehe man Elser in Stuttgart wenigstens eine abgelegene Staffel widmete – in der Nähe der Richard-Wagner-Straße, die vor den Nazis Heinrich-Heine-Straße geheißen hatte.
Das Hotel Silber, in dem Menschen von deutschen Polizisten gefoltert und ermordet wurden, steht in der Nachbarschaft des Unternehmens Breuninger. Dessen einstiger Chef Alfred Breuninger saß für die NSDAP im Stuttgarter Rathaus und profitierte vom Hitler-Regime. In seinem „arisierten“ Haus mussten Zwangsarbeiter Wehrmachtsuniformen produzieren.
Stadt- und Landespolitiker verschiedener Parteien, die heute Gedenkreden halten, waren nicht bereit, der Auseinandersetzung mit dem Faschismus von gestern und heute das komplette Gebäude am Charlottenplatz zur Verfügung zu stellen. Ein Stockwerk des Hotels Silber, einst Zentrum der Gestapo-Verbrechen, wurde an Breuninger für Büros vermietet.
Während der Laemmle-Ausstellung ging ich mit Freunden aus Neugier in das Restaurant Teamim in der Synagoge im Hospitalviertel. Für den Besuch im Restaurant musste man sich anmelden, der Sicherheitsdienste prüfte bei der Ankunft in der Synagoge die Personalausweise. Im Lokal herrschte wohltuende Gastfreundschaft. Wir bestellten Gemüsesuppe und Couscous. Koscher, versteht sich.
Die heutige Synagoge wurde am 13. Mai 1952 eingeweiht. Auch die erste Stuttgarter Synagoge, 1861 eröffnet, stand an der Hospitalstraße. Im Novemberpogrom 1938 brannte der Nazi-Mob unter dem Gejohle zahlreicher Schaulustiger das Haus nieder. Es wurde vollkommen zerstört, wie auch – mithilfe maßgeblicher örtlicher Feuerwehrmänner – die Synagoge in Cannstatt, die nicht mehr aufgebaut wurde. Bis vor wenigen Jahren, nach einer gutgemeinten, aber eher halbherzigen Neugestaltung, erinnerte an das jüdische Gotteshaus an der König-Karl-Straße eine peinliche Gedenkstätte. Bis heute sieht man dort unverständlich gestaltete Symbole (Verkehrsschilder) neben einem Parkplatz. Die Täter wurden dort vor der Umgestaltung nicht benannt, Begriffe wie „Nazis“ oder „NSDAP“ suchte man vergebens. Auf einem Gedenkstein liest man bis heute unerträgliche Phrasen über die „Zeit einer gottlosen Gewaltherrschaft“.
Nach Kriegsende waren von einst 5000 Juden nur noch 24 in Stuttgart. Aufgrund glücklicher Zufälle wurden sie nicht deportiert oder konnten in Verstecken überleben. Schon bald aber, bis zum Sommer 1946, kamen unerwartet viele Flüchtlinge nach Stuttgart. Die US-Besatzungszone wurde zentrale Aufnahmestelle für Juden aus Osteuropa, vor allem aus Polen. Die Amerikaner führten sie als „Displaced Persons“, als Menschen ohne Zuhause. Von 1946 bis 1948 werden in der Reinsburgstraße im Westen der Stadt zwei jüdische Zentren mit Beträumen eingerichtet, provisorische Synagogen.
Am 29. März 1946 stürmen mehr als 200 Stuttgarter Schutzpolizisten und Kriminalbeamte das Camp im Westen der Stadt, sie suchen Schwarzmarktwaren. Während der Razzia beginnen deutsche Polizisten zu schießen. Der polnische Jude Samuel Danziger geht zu Boden. Er hat Auschwitz überlebt und wie durch ein Wunder einen Tag vor der Polizeiaktion seine Frau und seine zwei Töchter in der Reinsburgstraße wiedergefunden. Als die Amerikaner die Razzia abbrechen, ist es zu spät. Der Schuss aus einer deutschen Polizeiwaffe hat Samuel Danziger (Shmuel-Dancyger) in den Kopf getroffen. Er ist tot. Der Schuldige wird nie gesucht, der Vorfall in der Stuttgarter Geschichtsschreibung jahrzehntelang verschwiegen. 2021 ist es geschichtsbewussten SWR-Journalistinnen gelungen, den wahrscheinlichen Täter zu ermitteln, den Stuttgarter Polizeiobermeister Arthur Koch, der für seine Tat nie belangt wurde. Die SWR-Redakteurin Tina Fuchs verarbeitete die Geschichte in ihrem Film Six Million. And One. Im September 2025 wurde, wieder dank einer Initiative, an der Reinsburgstraße der Shmuel-Dancyger-Platz eröffnet.
„Nichts gehört der Vergangenheit an“, hat der in Stuttgart geborene, bei uns lange auf unverschämte Weise ignorierte Jurist und antifaschistische Aufklärer Fritz Bauer gesagt, „alles ist noch Gegenwart und kann wieder Zukunft werden.“
Die Zukunft hat längst begonnen.
Veranstaltungshinweise:
Dienstag, 18. November 2025, 18 Uhr
Gewerkschaftshaus/Willi-Bleicher-Haus Stuttgart
Ein Podiumsabend von Netzwerk Gemeinsam gegen rechts – für eine bessere Demokratie in Kooperation mit ver.di BW
Welchen politischen Einfluss
haben unsere Gewerkschaften noch?
Eine Podiumsdiskussion mit Blick auf die immer größere Bedrohung demokratischer Errungenschaften durch rechtsextremer Organisationen und deren Anhängerschaft.
Mit
Sebastian Friedrich, Autor (Moderation)
Maike Schollenberger, Landeschefin ver.di BW
Farina Semler, stellv. Landesvorsitzende GEW BW
Danial Bandadi, Verein zur Bewahrung der Demokratie.
38 Prozent der Arbeiter:innen in der Bundesrepublik wählen AfD, darunter etwa 25 Prozent Gewerkschaftsmitglieder.
Was können wir tun gegen die Verrohung und Entmenschlichung unserer Gesellschaft?
Anmeldungen sind wie immer hilfreich: kontakt@netzwerk- gegen-rechts.info
FLANEURSALON LIVE
Am Mittwoch, 4. Februar 2026, sind wir in der Rosenau – mit dem österreichischen Schauspieler und Sänger Gottfried Breitfuß und dem Cemre Yilmaz Trio. Tatsächlich wurden für diesen Abend schon Karten verkauft. Es wird ein schönes Wiedersehen mit dem alten Freund Gottfried, der zuletzt zwanzig Jahre am Schauspielhaus Zürich spielte und zuvor am Stuttgarter Staatstheater war. In der Rosenau wird er zusammen mit dem Stuttgarter Pianisten Peter Weilacher auftreten. Hier der Link zu Infos & Tickets.