Willkommen!
Liebe Besucher:innen, tatsächlich hätte ich es mir selbst nicht zugetraut: Nach meiner Entscheidung Ende Mai, nicht mehr für die Kontext:Wochenzeitung zu schreiben, habe ich im alten Rhythmus zehn Kolumnen geschafft. Dachte, ohne den Druck eines Auftraggebers geht das nicht. Selbstverständlich ist mir klar, dass der Kreis meiner Leser:innen inzwischen sehr klein ist, meine Schreiberei gewissermaßen eine intime Angelegenheit. Aber ich bleibe in Übung und habe weiterhin Stoff für Flaneursalons.
Und wenn wir schon dabei sind: Am 4. Februar 2026 ist meine Lieder- und Geschichtenshow in der Rosenau – mit einem besonderen Gast: Der österreichische Schauspieler Gottfried Breitfuß, ein großartiger Komödiant und Liedersänger, kommt mit dem Pianisten Peter Weilacher auf unsere Bühne. Gottfried war einst am Staatstheater Stuttgart und die vergangenen 20 Jahre am Schauspielhaus Zürich. Dort habe ich im vergangenen April bei seinem großen Abschied mit einem famosen Georg-Kreisler-Abend die Laudatio gehalten. In seiner Stuttgarter Zeit trat Gottfried sehr oft zusammen mit Ernst Konarek in der mobilen Staatstheater-Produktion „Indien“ in der Rosenau auf. Jetzt also das Wiedersehen. Weitere Flaneursalon-Gäste sind Cemre Yilmaz & Friends.
Wer mir schreiben möchte: flaneursalon@joebauer.de
Und jetzt zu meiner aktuellen kleinen Website Story:
Die Homepage-Kolumne (10)
HOFFEN UND HANDELN
Im September war ich weg: neun Tage in der kleinen Stadt Norden in Ostfriesland, fünf Tage in Hamburg. Mit nach Hause gebracht habe ich eine kleine rote Tasse aus Metall mit abgebildetem Anker und dezentem Wortspiel („Sea you soon – Save the oceans“), eine Schneekugel mit Leuchtturm und eine Erkältung, die freundlicherweise erst am letzten Tag in Hamburg auftauchte.
Teetasse, Schneekugel und Erkältung dürften nach menschlichem Ermessen niemanden interessieren. Fraglich ist, ob es menschliches Ermessen in unseren Tagen der Entmenschung überhaupt noch gibt. Das Wort Entmenschung habe ich in Sebastian Haffners Buch „Geschichte eines Deutschen“ über das Erstarken der Nazis in den Zwanzigern und Dreißigern gelesen.
Die Sea-you-Tasse, die Schneekugel und die Erkältung habe ich erwähnt, weil mich diese Aufzählung von Kleinkram daran erinnert, wie alles anfing, in meiner Zeit als Zeitungsmensch, der im Angestelltenverhältnis Kolumnen mit der Ausbeute seiner Stadtspaziergänge füllte.
Begonnen hat das Ganze 1997. Damals arbeitete ich bei den StN von 1980 an als Redakteur im Feuilleton, das auf Wunsch des Chefredakteurs zwecks besserer Verständlichkeit bald in Kultur umgetauft wurde. Zum Spaß schrieb ich seinerzeit sogenannte Kästen für andere Ressorts, etwa für Lokales und Sport: mit Linien eingerahmte Artikel, die von einer gewissen Zwanglosigkeit lebten. Diese Nebentätigkeit wurde dann mein Hauptberuf. Meine Kolumnen erschienen vor allem im Lokalteil, über ihre Inhalte war im Vorhinein nicht geredet worden, auch gab es zunächst keinen Titel.
Seinerzeit war noch die Floskel „Kein Thema“ in Mode, in den Neunzigern ungefähr so populär wie „klaro“ oder „geilomat“ und so easy strapaziert wie heute „Alles gut“ oder „Kein Ding“. Eingesetzt wurde diese Redewendung etwa so: „Sorry, Kollege, könntest du mir bitte einen scheiß Kaffee aus der scheiß Kantine mitbringen?“ – „Kein Thema“.
Eine Zeitlang war „Kein Thema“ so zeitgeistig wie „oberaffengeil“, und so schlug ich voll cool vor, meine Kolumne „Kein Thema“ zu nennen. Diese Idee kam in weiten Kreisen des Fachpersonals nicht so gut an, der Chefredakteur nannte sie deshalb mit dem ihm eigenen Esprit „Joe Bauer / In der Stadt“. Zwar kam mir mit Blick auf Stuttgart der Titel „In der Stadt“ etwas vermessen vor, andererseits dachte ich mir: No problemo, wenn d’woisch, was i moin.
Die Dinge nahmen ihren Lauf, und der Spruch „Kein Thema“ verschwand bald wie der Schnee in der Schneekugel. Mir allerdings blieb er im Gedächtnis. So kam mir die Idee, meine Kolumne nicht monothematisch zu füllen. Ich wollte bei den Schilderungen meines Herumgehens lieber Sprünge machen wie Kinder auf den Betonplatten eines Gehwegs. Daraus habe ich nach und nach eine gewisse Technik entwickelt. Der Vorteil dieser Gedankensprünge war, dass ich auf diese Weise Stoffe in meine Kolumne einschleusen konnte, die man mir sonst womöglich nicht erlaubt hätte. Das Zusammenbasteln unterschiedlicher Ereignisse erleichterte es beispielsweise, Zusammenhänge zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen. So führte mein Weg von Orten der Naziverbrechen wie selbstverständlich in die rechtsextremen Reihen des heutigen Landtags. Vieles liegt bekanntlich auf der Straße.
Bis heute mag ich es nicht, ausführlich auf nur ein Ereignis oder nur eine Person einzugehen, weil die ohnehin zigfach aus allen Perspektiven ausgeleuchtet werden. Und nicht selten auch sehr gut. Bei Geilheit auf Resonanz reicht es im Übrigen oft schon, einen regelmäßig herumgeisternden Namen zu erwähnen, um den Lachsack in Gang zu setzen – und Klicks einzufahren. Und wer etwas Lustiges sucht, wird problemlos in den sozialen Medien fündig. Kleines Beispiel: die Facebookseite eines Politikers namens Frank Nopper, bekannt als Backnang-Frank:
„100 Jahre Brustring“: Zu diesem Jahrhundertjubiläum gratuliert Oberbürgermeister Dr. Frank Nopper unserem ruhm- und traditionsreichen VfB Stuttgart 1893 ganz herzlich. Anlässlich dieses Jahrhundertjubiläums hat OB Nopper in seiner privaten Fotokiste „gekruschtelt“ und ein Bild von sich mit Brustring aus Kindheitstagen gefunden. Es ist zwar keine hundert Jahre, aber dafür immerhin einige Jahrzehnte alt. Es zeigt OB Nopper als Erstklässler im elterlichen Garten. Hinter dem Gartentor gab es einen kleinen Bolzplatz, auf dem Frank Nopper in seinen Kindheits- und Jugendtagen regelmäßig mit rotem Brustring ausgestattet mit den Nachbarskindern Fußball spielte.
Solche Zeilen eines führenden Rathäuslers ohne Führungskompetenz im maroden Verwaltungsbetrieb sind beruhigend in unruhigen Zeiten und im Grunde auch nicht zu toppen, wenn die ganze Stadt sowieso schon mit der internationalen Werbung des Trikotsponsors aus der heimischen Bankenbranche tapeziert ist: „Brustring’s coming home“. Klingt nach Piercing und SM.
Was könnte unsereiner schon Erhellendes zu Friedrich Merz sagen? Dass er womöglich einen Nasenring, ganz sicher aber zwei Propeller hat? Oder zu Lars Klingbeil? Es reicht doch zu wissen, dass er Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ist. Oder zu Dieter Nuhr? Die ARD räumt ihm Raum ein, weil es einen Haufen Leute gibt, die über seine reaktionären Hetz-Witze lachen. Dieselben Leute behaupten noch während des Schweineschenkelklopfens, die ARD sei viel zu „links“, und die ARD flötet eilends: „Stimmt“. Aus Gründen der „Neutralität“ sendet sie flugs, diesmal ohne Lachsack, noch Dümmeres, worüber sich ein Haufen Leute empört, während sich ein anderer Haufen Leute über den Haufen empörter Leute empört. Alles zusammen der ultimative Beweis: Niemand darf mehr seine Meinung sagen.
Kurzum: Unsere Art Demokratie ist am Arsch. Hirnsprungbedingt fällt mir jetzt ein, dass ich neulich gelesen habe, Trump forme selbst bei K-Lauten seine Lippen so grandios zu einem offenen O, dass jemandem das medizinische Wunder gelungen sein müsse, ein Arschloch zu transplantieren. Leider weiß ich nicht mehr den Namen des Urhebers.
Gibt es noch irgendeine Chance gegen die Faschisten und Entmenschten? Können wir noch irgendwas gegen sie tun? Kein Thema. Ja.
In meinem Urlaub hab ich mir Rebecca Solnits neues Buch besorgt: „Hoffnung in der Dunkelheit. Unendliche Geschichten, wilde Möglichkeiten“. Auf dem Umschlag steht dieses Zitat des Magazins „The New Yorker“: „Rebecca Solnit erinnert uns daran, dass Siege von Aktivisten leicht in Vergessenheit geraten und dass sie oft auf äußerst unerwartete Weise zustande kommen.“
Die US-Autorin und Aktivistin habe ich in meinen Kolumnen schon öfter erwähnt, sie hat u. a. das Buch „Wanderlust. Eine Geschichte des Gehens“ geschrieben. Dank dieses großartigen Werks habe ich etwas über die politische Dimension des Spazierengehens gelernt: die Möglichkeiten, sich Räume anzueignen, Klassenunterschiede zu erkennen, Geschichte als Teil der Gegenwart zu begreifen.
Das Wort „Dunkelheit“ im Titel ihres neuen Buchs steht für das Ungewisse, das Unbestimmte – nicht für das Schlechte. Niemand kennt die Zukunft, so wenig wie den Tod. „Alles“, so Solnit, „ist möglich und hängt völlig davon ab, ob wir handeln oder nicht. Für die Faulen und Weltabgewandten gibt es kein Lotterielos, doch die Engagierten spielen um die allerhöchsten Einsätze. Ich sage das nicht, weil ich nicht bemerkt hätte, dass die USA sich in ihrem Streben nach der Weltherrschaft und der Auslöschung der Demokratie im eigenen Land derart verirrt haben, dass sie fast schon sich selbst und ihre vorgeblichen Werte zugrunde richten …“
Geschrieben wurde das Buch 2005, inzwischen überarbeitet – erstaunlich und doch verständlich, dass die Texte nichts an Aktualität eingebüßt haben. Wie Protest helfen kann, hat zuletzt das Beispiel des US-Satirikers Jimmy Kimmel gezeigt: Kaum hatte man mit Kündigungen von Abos die Disney-Bosse an ihrem kapitalistischen Entenschwanz gepackt, durfte der TV-Star wieder ran.
So kann ich nur empfehlen, „Hoffnung in der Dunkelheit“ als Mutmacher zur Hand zu nehmen: eine essayistische, sehr gut zu lesende Auseinandersetzung mit Engagement und Aktivismus in allen Teilen der Welt. „Hoffnung bedeutet, dass eine andere Welt möglich sein könnte, aber sie ist kein Versprechen, keine Garantie. Hoffnung verlangt nach Handlung; Handlung ist unmöglich ohne Hoffnung.“
Kein Thema? Doch. Hoffen und handeln: Das ist unsere einzige Chance.
SONG: Greentea Peng
Und noch ein Tipp:
Netzwerk Gemeinsam gegen rechts – für eine bessere Demokratie
in Kooperation mit dem DGB
Nachdem unser Gast seine für Oktober geplante Vortrags-Tour absagen musste, hier der neue Termin:
Dienstag, 4. November 2025
Gewerkschaftshaus/Willi-Bleicher-Haus Stuttgart. Beginn 18 Uhr:
Vortrag & Gespräch mit Autor Marcus Bensmann von CORRECTIV.
Nach den Veröffentlichungen des gemeinwohlorientierten Medienhauses CORRECTIV kam es in Deutschland Anfang 2024 zu Massendemos gegen rechts. Das Redaktionsteam hatte über das Geheimtreffen von Rechtsextremen und ihren Unterstützern in Brandenburg mit den berüchtigten „Remigration“-Plänen berichtet. Seit zehn Jahren recherchiert das Team zur AfD und im entsprechenden Milieu. CORRECTIV-Autor Marcus Bensmann ist bei uns zu Gast und stellt Inhalte seines Buchs vor: „Niemand kann sagen, er hätte es nicht gewusst. – Die ungeheuerlichen Pläne der AfD“ (aktualisierte Neuauflage mit dem Stand nach der Bundestagswahl 2025). Das Publikum hat Gelegenheit zu Fragen und zur Diskussion.
Anmeldungen sind wie immer hilfreich: kontakt@netzwerk- gegen-rechts.info