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Willkommen!

Liebe Besucher:innen, mehr als 20 Interessierte haben unseren Workshop zum Thema „Wie kann ich couragiert menschen- und demokratiefeindlichen Äußerungen entgegentreten?“ besucht – am Sonntag, 10. August, im Forumzelt des Festivals Umsonst & Draußen. Unsere Veranstaltungsreihe, von hauptberuflichen Coaches betreut, hat seit je gute Resonanz. Über den nächsten Termin werden wir rechtzeitig informieren. Unseren Newsletter kann man über unsere Webseite beziehen. Unsereiner war auf dem UD-Festivalgelände in Stuttgart-Vaihingen nicht dabei: Habe mir erlaubt, am Sonntag das erste Heimspiel der Stuttgarter Kickers in der neuen Saison auf der Waldau zu besuchen. 3:2 gegen Sandhausen. Gelegentlich gibt es noch Siege im Leben.

Am kommenden Samstag, 16. August, ist der Flaneursalon im Wirtshaus-Garten der Ratze am Raichberg, ganz in der Nähe des Waldheims Gaisburg. Es ist die letzte Lieder- und Geschichtenshow in diesem Jahr, und ich freue mich, erstmals den Dichter und Satiriker Thomas Gsella als Bühnengast begrüßen zu dürfen. Warum ich das ständig wiederhole? Es gibt immer wieder Wunder. Immer noch sind Plätze frei. Reservierungen: ratzestr@gmail.com

Meine nächste Homepage-Kolumne ist hier an diesem Samstag zu lesen.

Und weil es zur Zeit so heiß ist, dass es nicht falsch ist, irgendwo im Schatten ein Buch zur Hand zu nehmen, empfehle ich noch einmal meine jüngste und sicher letzte Kolumnensammlung: Einstein am Stuttgartstrand. Beobachtungen eines Stadtspaziergängers, erschienen im vergangenen Herbst in der Edition Tiamat, Berlin. Hier erfährt man, was es mit Einstein auf sich hat:

DIE TITEL-STORY

Für dieses Buch habe ich hauptsächlich Texte ausgewählt, die ich für meine Kolumne Auf der Straße in der Kontext:Wochenzeitung geschrieben habe. Begonnen hatte ich damit mit im April 2020, als die Corona-Pandemie ausgebrochen und alles durcheinandergeraten war.

Dass ein Buch heißt, wie es heißt, heißt gar nichts. Vielleicht heißt es so, weil jemand dachte, der Titel könne wen hinterm Ofen hervorlocken, selbst wenn niemand hinterm Ofen sitzt. 

Wie der Titel „Einstein am Stuttgartstrand“ zustande kam, kann ich nicht mehr sagen. Ursprünglich hatte ich „Geh Weg“ vorgeschlagen, aber Klaus Bittermann, der Verlecher, wie er sich in seinen Mails nennt, schoss sofort hinter seinem kalten Kreuzberger Ofen hervor: „Geh mir weg mit diesem Schwachsinn.“ Nein, so hat er es nicht gesagt, sondern so: „Sieht mir auf den ersten Blick nicht optimal aus.“

Zeit meines Lebens ohnehin nicht optimal optimiert, ging ich angesichts der verlegerischen Übermacht den Weg des geringsten Widerstands – und dann war der suboptimale Titel „Geh Weg“ eben weg. Eigentlich hatte ich mir vorgestellt, in dem grandiosen Wortspiel mein ganzes grandioses Leben zu spiegeln. Erstens sollte es auf den in meiner schwäbischen Dorfkindheit nur „Trottoir“ genannten Bürgersteig hinweisen. Zweitens wollte ich dem Rest der Welt empfehlen, mir für den Rest meines Lebens den Buckel runterzurutschen. Und drittens begann ich beim Blick auf den unschlagbaren Buchtitel „Geh Weg“ sofort zu singen: We gotta get out of this place …

Okay, too late.

Dann tauchte Einstein auf. Ein Name wie ein Magnet. Er kam aus einem schwarzen Loch im Gehweg. Mehr geht nicht. Albert Einstein stammt nicht aus Stuttgart, er hat sich in dieser Stadt lediglich mal um einen Job beworben. Erfolglos. Aber seine Mutter, Pauline Koch, wurde in Cannstatt geboren. Cannstatt ist heute Stuttgarts größter Bezirk mit mehr als 70.000 Einwohnern. In der restlichen Gemeinde wird diese Stadtlandschaft nur wahrgenommen, weil dort der VfB spielt und das Volksfest auf dem Wasen stattfindet. 

Als Pauline am 8. Februar 1858 zur Welt kam, gab es noch kein „Bad Cannstatt“; so nannten es erst 1933 die Nazis. Da war Pauline schon 13 Jahre tot. Albert wurde am 14. März 1879 geboren, und seine Wurzeln mütterlicherseits kann ich nicht für Stuttgart reklamieren, weil Cannstatt erst 1905 mit Stuttgart verbandelt wurde. Als sicher gilt, dass Albert stark von Pauline geprägt wurde, aber familiäre Geschichten sollte man diskret behandeln. Ich bin nur ein Herumgeher, und wenn ich in Stuttgart unterwegs bin, vergesse ich manchmal die Anwesenheit dieses Orts, weil mich das Gefühl überkommt, in etwas Geheimnisvolles oder Abgründiges hineingeraten zu sein. Etwas, das mit dieser Stadt nichts zu tun haben kann.

Ich bin gern in Cannstatt. Ein internationales Labyrinth. Und hier fließt der Fluss, der Neckar, den die Leuchtmatrosen auf der politischen Kommandobrücke der Stadt seit je ignorieren. So wie all die Dinge und Menschen, die die Stadt ein wenig städtischer machen könnten. 

Immer wieder sitze ich irgendwo am Neckarufer, das nur schwer zugänglich ist, und sage mir: Mach dir nichts draus, du kommst hier nicht mehr weg. Du hast das Boot verpasst. Aber ihn kannst du deutlich sehen, seine Mähne flattert im Wind, du hörst seine Geige. Er ist da. Einstein on the Beach.

Das Ganze klingt vielleicht etwas theatralisch, doch mein Film läuft nicht ohne Grund: In den Achtzigerjahren wurde Philip Glass‘ Oper „Einstein on the Beach“ an der Stuttgarter Staatsoper von Achim Freyer inszeniert, wie auch andere Werke des großen amerikanischen Komponisten. Seine Oper „Echnaton“ wurde in Stuttgart uraufgeführt, und es war für mich Ehrensache, all diese Sensationsereignisse zu besuchen.

Phil Glass war damals für mich nicht nur das Minimal-Music-Genie. Er war auch ein Rock ’n‘ Roller, hatte in New York als Taxifahrer und Möbelpacker malocht, bevor er ein Star der Musikwelt werden konnte.

Anlässlich der Aufführung von „Einstein on the Beach“ hatte ich das große Glück, Glass‘ Musikalischen Direktor und Pianisten Michael Riesman für ein Interview zu treffen, im Café Königx im Bohnenviertel. Ein freundlicher, bescheidener Mann. Er sprach – mit dem Hinweis auf eine Großmutter – fließend Deutsch und beherrschte wohl mehr als ein Dutzend anderer Sprachen. Er habe das Talent, Wörter und Sätze gewissermaßen im Vorbeigehen zu speichern, sagte er. Und erklärte mir, warum es kein Problem sei, mit der linken Hand in einem anderen Rhythmus Keyboard zu spielen, als mit der rechten zu dirigieren. Das war mir so unerklärlich wie die Relativitätstheorie. Wie aber hätte ich nach diesem Erlebnis „Einstein on the Beach“ vergessen können. Bin doch schon froh, als deutsche Kartoffel bei einem Song nicht auf die Eins, sondern auf die Zwei zu klatschen. Geh mir weg mit Taktgefühl.

Einstein schwirrt vor meinen Augen wie ein Gespenst herum, ein symbolischer Geist für alles, was der Spaziergänger in einer Stadt entdecken kann. Was vergessen, missachtet, vertuscht wird. Schau dich um. Vergiss diese Rathaus-Funzeln, die den eigenen Fluss nicht sehen, aber fortwährend Wellen machen und nach neuen „Leuchttürmen“ schreien, in der Hoffnung, sich selbst ein Denkmal zu setzen.

Bevor ich diese Zeilen getippt habe, fuhr ich mit dem Regionalexpress nach Ulm und besuchte das erst im Juli 2024 eröffnete Einstein-Museum. Unsere sog. Erinnerungskultur braucht bekanntlich Zeit. Offiziell heißt das Haus „Die Einsteins. Museum einer Ulmer Familie“. Es erzählt uns vom jüdische Leben in der Stadt und ihrer Umgebung, von unvorstellbaren Fluchtgeschichten während des Nazi-Terrors.

Das Museum steht in der Nachbarschaft der neuen Ulmer Synagoge, die 2012 eröffnet wurde. Die alte, nur wenige Meter entfernt, war in der Reichspogromnacht am 9. November 1938 auf Befehl der SA in Brand gesetzt und wenig später auf Anweisung der Stadtverwaltung abgerissen worden. 

Für den Spaziergänger kommt immer eins zum anderen, und der Zufall hilft. Im September 2010 fuhr ich in Urlaub nach Caputh, eine an der Havel gelegene Ortschaft der Gemeinde Schwielosee in Brandenburg, nicht weit von Berlin. Ich geh nun mal gern ans Wasser. Das Ferienziel hatte meine Begleiterin ausgesucht, zuvor hatte ich nie von Caputh gehört. Zufällig wohnten wir in der Nähe eines schönen alten Gebäudes, das sich bei näherem Hinsehen als Sommerdomizil Albert Einsteins herausstellte. Mit den Worten „Komm nach Caputh“, pfeif auf die Welt“ soll er seinen Sohn Eduard dorthin eingeladen haben. 1932 war das Kapitel Caputh für ihn beendet. Einstein kehrte von einer USA-Reise nicht mehr ins Deutschland der Nazis zurück. Und heute ist Brandenburg wieder ein brauner Brennpunkt. 

Ich würde mich kaum mehr an meinen Ausflug nach Caputh erinnern, hätte nicht am Morgen nach meiner Rückkehr im Schlossgarten eine Polizeiarmee Menschen niedergeprügelt, die gegen Stuttgart 21 protestierten. Da war Schluss mit Einstein, und im Polizeibericht wurde die Kastanie zum Pflasterstein.

Man hat viel kaputtgemacht in der Stadt – und ich ging immer noch nicht weg. dafür öfter auf die Straße. Nicht nur zum Herumspazieren, sondern vor allem gegen die, die ohne Scheu den wieder Weg ihrer politischen Vorfahren einschlagen. 

Wer lange herumgeht, kann nicht mehr wegschauen. Und dann siehst du ihn: Einstein am Stuttgartstrand. Was immer das heißen mag. Geh mir weg mit der Wirklichkeit, mit Raum und Zeit. Alles im Fluss.

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