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2547. Depesche
30. Juli 2025

2548. Depesche

Willkommen!

Liebe Besucher:innen, jetzt sind es nur noch zwei Wochen bis zum Flaneursalon im Wirtshausgarten der Ratze am Raichberg, und der Vorverkauf läuft wie immer in meinen Open-Air-Fällen: schlecht. Das ist nun mal so, und es hat keinen Sinn, darüber nachzudenken, warum es nicht mehr Leute gibt, die einen künstlerischen Mix wie den Flaneursalon einfach ohne große Bedenken unterstützen. Ist ja eh ein kleine Sache – und eine weitere Lieder- und Geschichtenshow in diesem Jahr bisher nicht geplant. Der Eintritt kostet nicht den Verstand, sondern 25 Euro, und das ist bei den heutigen Preisen und angesichts unseres Aufwands mehr als fair. Unser besonderer Bühnengast ist diesmal der namhafte Lyriker und Satiriker Thomas Gsella. Und natürlich bieten wir wieder viel schöne Live-Musik – und gute Höhenluft und scharfen Weitblick. Reservierungen sind per Mail möglich: ratzestr@gmail.com

Und hier ist wieder, rechtzeitig im Zwei-Wochen-Rhythmus, meine kleine Website Story, die nichts kostet …

Die Homepage-Kolumne (6)
JOXER GEHT NACH STUTTGART 

In der Kurzgeschichte „Eine Sache auf der Arbeit“ von George Saunders, einem außergewöhnlich guten Schriftsteller aus Catskill Mountains (Bundesstaat New York), blieb ich an diesen zwei Zeilen hängen:
„Das Ganze war ein Haufen Scheiße.
Aber jetzt musste er es aussitzen.“

Man könnte fragen: Was, bitte, soll an diesen Allerweltssätzen besonders sein? Ganz einfach: Ich habe sie wörtlich genommen und mir bildhaft vorgestellt, was ich in diesem Fall auszusitzen hätte. Vor meinen Augen begann es zu dampfen und zu stinken, ich stand vom Sofa auf, zog mir zwei Schuhe an und ging hinaus auf die Straße. Das war keine Lösung, denn meine Straße hat selten mehr Aufregendes zu bieten als ein paar beschissen abgestellte E-Scooter und einige unverschämt geparkte Autos. Aber wo schon finden sich noch Lösungen.

Keine Ahnung, warum: Gerade dem Haufen Scheiße im Kopf entkommen, fiel mir das Lied wieder ein, von dem ich 36 Jahre nichts mitbekommen hatte, bis mich neulich ein Freund aus Hamburg nach einem Irland-Besuch darauf aufmerksam machte. Er war ziemlich verwundert, dass ich den Song nicht kannte, er heißt Joxer Goes To Stuttgart.

Veröffentlicht hat ihn 1989 der irische Musiker Christy Moore. Sein Lied erzählt die Geschichte des Fußballfans Joxer, der 1988 zum ersten Europameisterschaftsspiel der irischen Nationalmannschaft nach Stuttgart fährt. Die Partie findet am 12. Juni im Neckarstadion statt, und der Gegner heißt England. Trainer der Green Boys aus Irland ist Jack Charlton. 1966 war er als Innenverteidiger mit dem englischen Team im Finale gegen die Deutschen Weltmeister geworden. Mit diesem 4:2, über das bis heute gestritten wird, weil nie geklärt werden konnte, ob der Ball bei Geoff Hursts Schuss zum 3:2 von der Latte vor oder hinter die Torlinie sprang.

Jack Charlton formte als Irlands Nationalcoach eine Mannschaft aus Spielern, die irgendwo in Großbritannien spielten und irische Wurzeln nachweisen konnten, sogenannte Doppelbürger, die laut Trainer nach der Auswanderung ihrer Vorfahren aus wirtschaftlicher und existenzieller Not im Herzen Iren geblieben waren.

1988 war ich Redakteur im Feuilleton der StN und arbeitete während der EM als personelle Verstärkung in der Sportredaktion. Einer meiner Jobs war es, regelmäßig das Trainingslager der sowjetischen Mannschaft in der Sportschule Ruit auf den Fildern zu besuchen. Ich glaube, meine Kollegen hielten mich eh für einen Kommunisten. Ich erinnere mich, wie mich einmal Walerij Lobanowskiin einer öffentlichen Pressekonferenz minutenlang zusammenfaltete, weil ich nach der vorangegangenen Pressekonferenz mitihm geschrieben hatte, der UdSSR-Trainer gebe nichts preis – außer seinen nackten Unterschenkeln zwischen Socken und Turnhose. Das verstand er als unqualifizierten Angriff eines Banausen auf sein Äußeres. Und dann setzte er, mit allerlei Verweisen auf die Bühnenkunst von Theater und Oper, zu einem Vortrag über moderne Trainingsmethoden und den ganzheitlichen Fußball an, dass mir Hören und Sehen verging. Unter anderem berichtete er von wissenschaftlichen Erkenntnissen aus der American Football League, von denen ich noch nie gehört hatte.

Lobanowskis intellektuelle Überlegenheit im Metier wurde vollends deutlich, als sein UdSSR-Team im Stuttgarter Halbfinale mit einem sensationellen Auftritt Italien 2:0 besiegte. Später kursierte zwar das Gerücht, einige Stars der Squadra Azzurra hätten in der Nacht zuvor das Café Weiß besucht, ein Etablissement, das seinerzeit noch Spielerinnen aus der Rotlichtliga beschäftigte. Die These von der physischen Schwächung der italienischen Männer schmälerte allerdings nicht Lobanowskis Triumph: Seinem taktischen Genie hatten die Italiener nichts entgegenzusetzen.
Walerij Lobanowskistarb im Mai 2002 mit 63 Jahren.

Zurück zum Spiel England vs. Irland. Ich war damals im Neckarstadion, um am selben Abend etwas über die Stimmung bei diesem großen historischen Duell zu schreiben. Die mit deutschem Bier mental gut eingestellten englischen Fans mit nacktem Oberkörper schwenkten siegessicher ihre Nationalfahnen, und ich weiß noch, dass ich am Ende notierte: „Der Union Jack hing schlaff am Mast.“ Denn in der sechsten Minute hatte der 170 Zentimeter kleine Ray Houghton den Ball über Torhüter Peter Shilton hinweg ins Tor geköpft. Die Engländer waren geschockt, und die Iren gewannen ihr Auftaktspiel 1:0. Um ins Halbfinale einzuziehen, hätte ihnen später ein Unentschieden gegen die Niederlande gereicht – aber nach einer heldenhaften Vorstellung kassierten sie acht Minuten vor dem Ende das 0:1.

Und jetzt zu diesem verdammten Song „Joxer Goes To Stuttgart“ von 1989, den ich in diesem Sommer zum ersten Mal höre, obwohl ihn Millionen vor mir auf Youtube angeklickt haben. Hier ein paar Strophen von Christy Moores umfangreichem Text in deutscher Übersetzung: 

Es war im Jahr 1988, im schönen Monat Juni,
als die Bremsen schwärmten und die Hunde den Mond anheulten.
Mit Rosenkränzen und Sandwiches machten wir uns auf den Weg nach Stuttgart.
Joxer packte seinen Deutsch-Sprachführer und das Ladekabel für den Van ein. (…)

In Deutschland war die Autobahn wie die Long Mile Road.
Es gab Autos und Transporter aller Marken, die alle voll beladen waren.
Ford Transits und Hiaces und ein alter Bedford aus Tralee,
dessen Motor wegen der langen Fahrt mit Duty-Free-Waren überhitzt war. (…)

Sobald wir Stuttgart gefunden hatten, stellten wir die Wagen im Kreis auf.
Sean Og holte sein Banjo heraus, und Peter spielte Mandoline.
Fans aus aller Welt waren von der Musik angezogen.
Beim ersten Fleadh Ceoil in Europa reichte Joxer den Krug herum. (…)

(Anmerkung: Fleadh Ceoil ist ein Musikfestival)

Am nächsten Morgen gab uns keiner der Experten auch nur den Hauch einer Chance.
Sie sagten, das englische Team würde uns zu einem fröhlichen Tanz führen.
Mit ihren Union Jacks waren alle englischen Fans auf den Sieg eingestellt,
Bis Ray Houghton den Ball bekam und ihn im Netz versenkte.


Was dann geschah, ist Geschichte und trieb vielen Tränen in die Augen.
Dieser Tag wird für viele Menschen der Höhepunkt im Leben sein.
Joxer kletterte auf den Gipfel der Welt, und das letzte Mal wurde er gesehen,
da lief er Arm in Arm mit Jack Charlton und sang „Revenge for Skibbereen“.

„Rache für Skibbereen“ war ein Schlachtruf der irischen Unabhängigkeitsbewegung im 19. Jahrhundert. Und der Freiheitskämpfer Michael Collins nahm im Eldon-Hotel zu Skibbereen seine letzte Mahlzeit ein. Wenig später wurde er bei einem Attentat getötet.

Das war die Geschichte von Joxer, dem irischen Fußballfan, und ich habe keine Ahnung, ob sie irgendeine Berechtigung hat in diesen Tagen, da wir an allen Ecken und Enden einen Haufen Scheiße vor Augen haben und nicht wissen, ob und wie wir ihn aussitzen, geschweige denn abräumen können. Ich muss die Stichwörter nicht nennen, nicht Trump, nicht Gaza, nicht Merz. Und ich muss in einer Kolumne nicht ausführen, wie irrwitzig es ist, sich in diesen Tagen der Entmenschlichung und Zerstörung demokratischer Gesellschaften über die Hakenkreuz-Zeichnung eines SPD-Abgeordneten hinter dem Namen eines Rechtsextremen auf einem geheimen Wahlzettel zu empören. Mitten in der allgemeinen Hochrüstung wird jeder Kleinmist mithilfe der Entrüstungsmedien zu einem großen Haufen aufgeblasen. Ich werde noch einmal Christy Moores Stimme und Gitarre hören und mir Gedanken machen, wohin die Reise geht und wer am Steuer sitzt:

Einige der Jungs waren noch nie von zu Hause weg gewesen.
Es war das erste Mal, dass Whacker einen Fuß außerhalb von Inchicore setzte.
Bevor wir nach Europa aufbrachen, wussten wir, dass wir einen Plan brauchten.
Also einigten wir uns alle darauf, dass Joxer den Van fahren sollte.

Song: Joxer Goes To Stuttgart
Lyrics: Englische Fassung

Kolumne 5: Rote Tage
Kolumne 4: Am Hochofen
Kolumne 3: Der Wind von Oklahoma
Kolumne 2: Gliedererfrischendes Baden im Neckar
Kolumne 1: Abschaum und Asphalt

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