Willkommen!
Liebe Besucher:innen, am Dienstag dieser Woche war der Dichter Thomas Gsella in der Stuttgarter Rosenau. Eingeladen von Kulturregion Stuttgart und Sportregion Stuttgart las er auch lustige Fußballtexte, und ich hatte den Auftrag, eine „Einführung“ vorzutragen:
Schönen guten Abend in der Rosenau, der zentralen Bühne des freien Westens der Stadt,
heute habe ich die große Ehre, das Vorspiel für den Auftritt eines Künstlers zu bestreiten, der als einsamer deutscher Meister des komischen Gedichts, der satirischen Lyrik die Arena des Humors beherrscht. Thomas Gsella.
Bernd Sautter, der maßgeblich am Transfer des Dichters von Aschaffenburg, seinem freiwillig gewählten Lebens- und Wirkungsort, nach Stuttgart beteiligt war, hat mich mit einer Einführung in diesen Abend beauftragt. Und dafür fehlt mir eigentlich jede Berechtigung:
Erstens bedarf es keinerlei Vorstellung des Künstlers Thomas Gsella. Jeder halbwegs lebendige Mensch verfolgt seine Gedichte auf verschiedenen Plattformen, um sich mit einer regelmäßigen Dosis Humor am Leben zu erhalten. Er war unter anderem Chefredakteur der Titanic, des Zentralorgans der Neuen Frankfurter Schule.
Zweitens geht es heute Abend vorwiegend um Fußball, und bei diesem Thema wird mir seit eh und je die Legitimation auf fachliche oder gar meinungsgefärbte Äußerungen abgesprochen. Der Grund dafür ist simpel: Seit Jahrzehnten bin ich Anhänger der Stuttgarter Kickers und werde deshalb als inkompetent eingeordnet. Meine Aufenthalte auf der Waldau rechtfertige ich deshalb nicht mit dem Interesse an Fußball, sondern mit meinen Menschenrechten auf die gute Luft in Degerloch und die gesunde Distanz zum Duft eines Vereins namens VfB.
In Wahrheit allerdings atme ich tagtäglich den globalen Geist des Fußballs. Ich wohne unweit vom Kernerplatz. Ganz in der Nähe, in einem früheren Wirtshaus namens Zum Becher in der Kernerstraße, der damaligen Urbanstraße, wurde 1893 der FV Stuttgart gegründet, der ältere der beiden Vorgängervereine des VfB Stuttgart. Und nur einen Steinwurf davon entfernt, am Stöckach, war einst der erste Fußballplatz der 1899 gegründeten Stuttgarter Kickers. Seinerzeit schrieben die sich, beseelt von englischem Adelsdünkel, vorne noch mit C wie Chelsea.
Vielleicht können wir uns trotz der heute extremen Umweltverschmutzung in meiner Gegend auf eine Erkenntnis einigen: Der Duft von frisch geschnittenem Gras, das ist der Duft der Fußballs, hat Jorge Valdano gesagt. Dieser große Fußballpoet war in den achtziger Jahren argentinischer Nationalspieler, er spielte lange in Spanien, auch erfolgreich bei Real Madrid, später war er Direktor von Real. Valdano hat schöne Texte geschrieben, und einer seiner Sätze hat einiges zu meinem Weltbild beigetragen. Ich zitierte: „
Trotz seiner Unsauberkeiten und Verirrungen ist Fußball in erster Linie und im Wesentlichen ein Spiel. Deshalb handelt es sich um eine ernsthafte Sache.“
Und damit bin ich beim Meister der komischen Sache, bei Thomas Gsella. Aschaffenburg gilt trotz des dort ansässigen Regionalligisten Viktoria Aschaffenburg nicht gerade als Fußball-Metropole. Geboren aber wurde Thomas im Ruhrgebiet, und damit ist schon sehr viel über sein Verhältnis zum Fußball gesagt. Ob Rotweiß oder Schwarz-Weiß Essen, ob Dortmund oder Schalke, Duisburg oder Bochum. Er ist kein Klubfan, aber er hat eine tiefe Fußballseele: Hauptsache Ruhr.
Humor mag vielen wie eine Spielerei daherkommen, Humor aber ist immer das Ergebnis einer sehr ernsthaften analytischen und oft mühsamen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Humor ist ein Mittel, in einer Verbindung aus Wahrheit und Schmerz die Realität sichtbar zu machen, Unsauberkeiten und Verirrungen eines Spiels namens Leben ans Licht zu bringen. Neulich habe ich mit Thomas kurz telefoniert. Selbstverständlich erwähnte er die obszönen finanziellen Auswüchse und Abgründe im großen Fußballgeschäft. Aber das Spiel, das weiß er ebenso, strahlt für die Liebhaber dieses Sports ungetrübte Faszination aus. Und ich sage mir: Wenn wir im Museum vor einem Gemälde stehen, denken wir nicht zuerst an die Perversitäten des Kunstmarkts, beim Kinobesuch sehen wir in einem Film nicht die Schweinereien Harvey Weinsteins, und wenn wir einen guten Song hören, gehen uns nicht zuerst die Unmenschlichkeiten des Showbusiness durch den Kopf.
Und weil ich gerade das Wort Song erwähnt habe, bin ich wieder bei Thomas Gsella. Was er macht, hat sehr viel mit Liedern zu tun. In seinen Reimen Strophen spüren wir die Phrasierung, das Tempo, die Dynamik der Musik. Wir erfreuen uns an der Sprachmelodie und am Rhythmus der Reime, und uns wird klar: Wie auch der Romanschriftsteller seinen Sound hat, so hat Thomas Gsellas seinen Wortklang und seinen Beat. Das ist große Kunst auf kleinem Raum.
Große Kunst auf engstem Raum erkennen wir im Übrigen auch beim Fußball. Verzeihung, wenn ich jetzt nicht den VfB erwähne: Aber was waren das neulich für kunstvolle Tore im Champions-League-Spiel zwischen Barcelona und Inter Mailand.
Wie gesagt, als Kickers-Mann fehlt mir die Berechtigung, mich über die Champions League zu äußern. Allerdings, und da könnte mir Thomas womöglich zustimmen, möchte ich klarstellen: Die Ernsthaftigkeit des Spiel erkennt man auch in der vierten Liga, sofern man ein gewisses Klassenbewusstsein besitzt. „Abstieg gibt’s bei Sportvereinen / Doch es gibt ihn auch sozial“, heißt es in Thomas Gsellas Gedicht „Weg mit der Abstiegsangst“. Das wird man ja wohl noch sagen dürfen, nur fünf Tage nach dem 1. Mai, dem Internationalen Kampftag der Arbeiterbewegung. Vermutlich sind nicht alle von uns hier im Saal sozial gesehen in der Champions League zu Hause.
Das bevorstehende Pokalendspiel der Lampen gegen Bielefeld allerdings ist ganz sicher ein ganz typisches Stuttgarter Weltereignis – jedenfalls wenn es nach unserem Dorfrummel-Hooligan im Rathaus geht. Sei’s drum: Wir kennen ja alle den Backnang-Frank. Und seinen Spielrausch.
Fußball schafft nach wie vor riesige Bühnen, live und medial, und diese Bühnen mit ihren beeinflussbaren Menschenmassen bergen Gefahren: Hier wollen naturgemäß die Feinde der Demokratie, die Faschisten das Spiel auf den Rängen an sich reißen, und dagegen müssen wir uns wehren, in jedem Stadion, auf jedem Fußballplatz. Fanatismus, hat Valdano gesagt, sei „das gefährlichste Nebenprodukt der Intoleranz“. Fußball, sage ich mir, ist ein durch und durch internationales, anti-rassistisches Spiel der Verständigung über die Grenzen von Ländern und Generationen hinweg – und kein Vehikel für nationalistischen Größenwahn.
Fußball, liebe Freundinnen und Freunde, ist grundsätzlich nicht lustig. Jedenfalls nicht das Spiel selbst. Es hat ja – von den Slapstick-Einlagen im Neckarstadion abgesehen – oft sehr tragische Züge. Lustig ist nur das Drumherum. Und früher haben wir gegrinst, wenn Lothar Matthäus den Sand in den Kopf gesteckt und Bruno Labbadia uns erklärt hat, was die Medien hochsterilisieren. Heute sind die meisten Spieler und Spielerinnen rhetorisch besser gecoacht.
Thomas Gsella seziert in seinen Fußball-Gedichten die große Unterhaltung Fußball und deren Wirkung auf uns – die verrückten und absurden, die liebenswerten und berauschenden Momente des Spiels und seiner Einflüsse auf unser Leben. Von Haus aus ist unser Champion des komischen Gedichts ein politisch radikaler Dichter: Einer, der an die Wurzeln geht, der aufdeckt, der aufklärt, wie es die Aufgabe der Satire ist: zuspitzen, überhöhen, und wie ein Boxer die Jabs an der richtigen Stelle landen. Und zwar bei denen da oben, nicht bei denen da unten. Und das alles in der Absicht, uns, die Leserinnen und Leser, das Publikum im Herzen und im Hirn zu treffen. Meist empfinden wir dabei großes Vergnügen, manchmal spüren wir auch bitteres Leid.
Reimen sei grundsätzlich eine schöne Arbeit, sagt Thomas, er denke sehr oft in Reimen, was möglich ist, weil ein Dichter spezielle Hirnspeicher hat. Als Laie denke ich mir: Ein Gedicht schreiben, das muss so schwierig sein, wie aus einem Felsbrocken eine kleine Skulptur herauszuschlagen, sie bis zur Perfektion zu meißeln. Vielleicht aber reicht für ein Gedicht auch mal ein Bierdeckel, wie für manchen großen Song in der Musikgeschichte.
Ich bin überzeugt, dass ein Gsella-Gedicht die beste Möglichkeit ist, Fußball literarisch gerecht zu werden. Schneller Antritt, geschmeidige Technik.
Und ich stelle mir den Dichter vor, wie er mit seinen vorbereitenden Außenristpässen aus der Tiefe des Raums auf das Ende seines Spiels hinarbeitet. In letzter Sekunde muss er treffen, die Kugel so gefühlvoll wie hart in die Maschen setzen. Das ist dann weiß Gott kein lucky punch. Das ist die Pointe. Und die sitzt.
An Fußball kommt niemand vorbei. Und wenn ich von oben herab belächelt werde, weil ich wie ein Kamel zur Tränke auf den Kickersplatz marschiere, dann erzähle ich ihm, dass der große Komponist Dimitri Schostakowitsch nicht nur die Leningrad Sinfonie geschrieben hat, um die Bevölkerung der Stadt zum Durchhalten gegen die brutalen Angriffe der deutschen Faschisten zu motivieren. Er hat auch seine große Liebe namens Fußball mit sehr weiten Reisen zu Spielen gepflegt und sogar eine staatliche Lizenz als Schiedsrichter erworben. Da wird doch unsereiner auf dem Kickersplatz auch mal auf sein Leben pfeifen dürfen.
Und damit komme ich zum Schluss mit der finalen Strophe aus einem Gedicht von Thomas Gsella:
Erst Pokal-, dann Champions-League-Finale,
Dann in Frankreich: die WM der Frauen!
Also hört, ihr Völker, die Signale:
Keine Pause! Auf geht’s! Weiterschauen!
In diesem Sinne: einen schönen, einen großen und genussvollen Abend von und mit Thomas Gsella. Vielen Dank.
FLANEURSALON LIVE
Der nächste kleine Flaneursalon findet am Mittwoch, 21. Mai, auf dem Marienplatz statt – in der mobilen Laube des Projekts Sukkat Salām. Beginn 19 Uhr. Ein internationaler Begegnungsort, für den sich u. a. der israelische Sozialarbeiter Oron Haim von Kubus e. V. engagiert. Oron und ich haben uns bei einer Veranstaltungen gegen Antisemitismus im Theater Rampe kennengelernt, seitdem treffen wir uns regelmäßig. Logisch, dass wir in seiner Laube mit einem Flaneursalon dabei sind: mit dem Cemre Yilmaz Duo und Stefan Hiss. Eintritt frei.
Der Vorverkauf für den FLANEUSALON AM FLUSS am Samstag, 5. Juli, im Stuttgarter Neckarhafen läuft inzwischen. Ich muss hier nicht sagen, dass sich noch nicht viel tut. Aber: Nur etwa 200 Besucher:innen haben Platz. Schöner Ort am Mittelkai mit einzigartiger Kulisse. Wie immer beginnt die Veranstaltung mit dem unkommerziellen Hafenpicknick: Zugang ab 17 Uhr, es gibt einen offenen Grill für alle, die zur Selbstversorgung mitbringen können, was sie wollen. Gleichzeitig steht ein Gastro-Wagen bereit. Link zu Infos und TICKETS
NETZWERK GEMEINSAM GEGEN RECHTS – FÜR EINE BESSERE DEMOKRATIE
Zu unseren Aufgaben gehört es naturgemäß, neben der politischen Gegenwart auch die Geschichte unserer direkten Umgebung im Auge zu haben. Unter diesem Gesichtspunkt helfen wir beispielsweise dem Berliner Verleger Klaus Bittermann (Edition Tiamat), an Wolfgang Pohrt zu erinnern:
Donnerstag, 15. Mai 2025, Württembergischer Kunstverein, 19 Uhr:
Lesung zum 80. Geburtstag des Publizisten Wolfgang Pohrt (5. Mai 1945 – 21. Dezember 2018). – Mit Klaus Bittermann und Joe Bauer.
Wolfgang Pohrt war einer der streitbarsten und schärfstes linken Kritiker der Linken, ein antifaschistischer Wachrüttler, wie wir ihn heute dringend bräuchten. Seine brillanten Analysen und stilistisch glänzenden Aufsätze lösten viele Debatten aus. Und was die wenigstens wissen: Er lebte lange in Stuttgart; 2019 wurde er in Heslach beerdigt. Sein Verleger Klaus Bittermann hat nach Pohrts Tod den umfangreichen Nachlass veröffentlicht und eine hervorragende Biografie geschrieben. Nach einer Veranstaltung zum 80. Geburtstag des Autors und Sozialwissenschaftlers am 5. Mai an der Berliner Volksbühne gibt es auch einen Abend im WKV Stuttgart. Für Anmeldungen sind wir wie immer dankbar: zentrale@wkv-stuttgart.de
Eine weitere hochaktuelle Veranstaltung unseres Netzwerks findet ebenfalls schon in Kürze statt:
Montag, 26. Mai 2025, Württembergischer Kunstverein, 19 Uhr:
Trumps USA, der Widerstand – und wir.
Wie umgehen mit dem amerikanischen Albtraum?
Es referieren und informieren der Politik- und Literaturwissenschaftler Ingar Solty sowie der aus den USA stammende Verdi-Gewerkschafter Daniel Gutierrez. – Auch hier der Hinweis, dass Anmeldungen für uns hilfreich sind: zentrale@wkv-stuttgart.de