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Der Bäckermeister Hans-Georg Schmälzle war einst eine bekannte Persönlichkeit im Stuttgarter Leonhardsviertel. Sein ehemaliger Laden und sein Café Schmälzle, die er zusammen mit seiner Frau Helga führte, sind im Wortsinn eine Legende. Am 26. August ist Hans-Georg im Alter von 72 Jahren gestorben; die Beerdigung findet an diesem Donnerstag, 12. September, um 14 Uhr auf dem Stuttgarter Waldfriedhof statt.
Als die Bäckerei Schmälzle am 31. Dezember 2011 schloss, schrieb ich zum Abschied eine Kolumne in den StN. Später war im den Räumen der DGB-Treff Basis untergebracht – heute ist dort das Domizil des VfB-Fanprojekts.
DAS KAPITEL SCHMÄLZLE
Aus der Altstadt kommt selten eine gute Nachricht. Beim Brunnenwirt habe ich zu Mittag gegessen, bevor ich um die Ecke ging zum Bäcker Schmälzle, um die Botschaft zu verdauen. Laden und Café in der Hauptstätter Straße 41 sind nachmittags geschlossen, die Haustür ist offen, die Schmälzles sind da. Nach getaner Arbeit gibt es viel zu tun in diesen Tagen.
Die Abwicklung steht bevor.
Am Morgen des 31. Dezember wird Helga Schmälzle, 57, noch einmal Brezeln über die Theke reichen, Silvester-Brezeln, wie sie ihr Mann Hans-Georg, 60, jedes Jahr gebacken hat. Sie wird der Kundschaft ein glückliches neues Jahr wünschen, sich verabschieden, und keiner wird es glauben wollen. Es wird Tränen geben, vielleicht auch ein befreites Lächeln. Die Bäckerei Schmälze, 1948 von Hans-Georgs Vater Georg Schmälzle in der Hauptstätter Straße gegründet, ist Geschichte. An Silvester wird sie für immer schließen.
Ein milder Wintertag. Als ich gehe, begleitet mich der Bäcker hinaus auf die Hauptstätter Straße, die nicht mehr die Seine ist. Er ist im Viertel geboren, ein Altstadtjunge, der man sein Leben lang bleibt. Zum Abschied gibt er mir ein paar Anekdoten mit auf den Weg, die lustigen, die keinen etwas angehen.
Vor 40 Jahren hat Hans-Georg Schmälzle mit seiner Frau Helga das Geschäft seines Vaters Georg übernommen, sie bauten es zu einer Altstadt-Oase aus, wie es sie nicht mehr geben wird.
Das Leonhardsviertel ist voller Geschichte. Im „Städtle“- so nennt man das Quartier – stehen denkmalgeschützte Häuser, ihre Architektur reicht zurück bis ins 17. Jahrhundert. Für die Politiker im Rathaus, nur einen Steinwurf entfernt, war das nie ein Grund, sich um die vergessene City zu kümmern. Hauptsache, die Autos hatten Platz. Man hat die Gegend mit Autobahnen tranchiert, sie verkommen lassen.
Die Schmälzles sind legendär. Tragende Figuren einer Ära, die keiner vergisst, der dabei gewesen ist. Als leicht gekleidete Damen auf der Straße unsichtbar grüßten, wenn „d’r Beck“ seine Brezeln im Korb austrug, als Herren mit guten Anzügen Zeichen gaben, was ihnen heute munden könnte. Ein Törtchen vielleicht, zu einem Tässchen Kaffee mit Cognac.
Die Schmälzles waren bald eine Institution, damals in den siebziger Jahren, als es zappenduster war in der Stadt. Für gängige Lokale galt die Polizeistunde.Zapfenstreich um Mitternacht. Die Nachtmenschen im Viertel retteten sich bis zwei Uhr in die Weinstube Widmer in der Leonhardstraße (heute Weinstube Fröhlich) und eine weitere Stunde in die Milieu-Zentrale Brunnenwirt. Danach klaffte ein Loch. Die wenigen Frühlokale, liebenswerte Kaschemmen für Reiche und Heimatlose, Schöngeister und Banditen, öffneten erst um sechs.
Auch im Café Schmälzle, einem winzigen Hinterzimmer mit Bienenkorb-Intimität, gingen morgens um sechs die Lichter an. Zuvor hatte der Bäcker gute eigene Brezeln zubereitet, nicht dieses Industriezeugs aus den Pappkartons, und nebenbei den Mondsüchtigen das Leben gerettet. Auf Klopfzeichen reichte er heiße Schinkenhörnchen durchs Fenster seiner Backstube, um die Not der Nacht zu lindern.
Punkt sechs versammelte man sich im Café Schmälzle in der Absicht, die Welt zu retten, sie aus den Angeln zu heben oder wenigstens den welthaltigen Roman zu schreiben. Das Schmälzle blieb in solchen späten Nächten unbeschadet, selbst wenn die Altstadtguerilla im Kampf gegen sich selbst und die guten Sitten auf den Tischen tanzte und böse Lieder sang, bevor Beziehungen in die Brüche gingen und die dank Schmälzle wieder gekittet wurden.
In solchen Stunden war die Freiheit groß und Schmälzles Wohnzimmer neutrales Gelände. Der Gast genoss Immunität. Keine Polizeistreife, im Viertel nur „Schmier“ genannt, wäre auf die Idee gekommen, einen der üblichen Verdächtigen auf dem Hoheitsgebiet der humanen Bäckerfamilie festzunehmen. Kein Bulle hatte so wenig Anstand, vor den Augen der stets gütigen, freundlichen Frau Schmälzle mit Handschellen herumzufuchteln.
Das vorige Jahrtausend ging dem Ende zu, als der Bäcker Schmälzle letztmals das Plakat mit der Aufschrift „Das freundliche Stück Altstadt zwischen Wilhelmsplatz und Gustav-Siegle-Haus“ in seinen Laden hängte. Als in der Nachbarschaft der Goldschmied, der Optiker, der Buchhändler, der Obsthändler, der Käsehändler und der Metzger ihr Geld verdienten. Als die Handwerker noch einmal zum „Hoffest“ in die Hinterhofkulisse luden.
Das Milieu hat sich verändert seit Ende der siebziger Jahre. Die Achtziger warfen die Schatten der Verelendung auf das Leonhardsviertel, und in den Neunzigern gingen die Rotlichter der Glanzzeiten vollends aus. Die regional gesteuerte Kleinzuhälterei wich einer international gemanagten Prostitution. Es wurde härter im Viertel.
Wenn Helga und Hans-Georg Schmälzle ihr Geschäft aufgegeben haben, wollen sie auch ihre Wohnung im Haus 41 und die Altstadt verlassen. Sie haben genug. Genug geschuftet. Morgens um drei klingelte der Wecker. Das Leonhardsviertel, sagen die Bäckersleute, sei ihnen fremd geworden. Nicht mehr viele in der Nachbarschaft sprechen ihre Sprache.
Die Gerätschaften der Backstube werden verschrottet. Was danach kommt, weiß keiner. Das Haus gehört der Stadt. Stadträte der Grünen haben neulich „zur Aufwertung“ des Viertels ein „Beleuchtungskonzept für die Straßen“ beantragt. Das ist gut. Wenn die Schmälzles, zwei der letzten Zeugen, das Revier verlassen, wird sich der Altstadt-Chor versammeln und zu den Leuchten im Rathaus hinübersingen:
„Ich geh‘ mit meiner Laterne / Und meine Laterne mit mir. / Dort oben leuchten die Sterne / Und unten leuchten wir. / Mein Licht ist aus, / Ich geh‘ nach Haus, / Rabimmel, rabammel, rabum.“