Liebe Freundinnen und Freunde des Flaneursalons,
in den vergangenen Tagen habe ich ein wenig in meinem alten Kram auf der Homepage herumgeblättert. Ich weiß nicht, ob es mir guttut, mich zu erinnern. Andererseits gibt es noch einiges zu tun, bevor man nicht nur die Hoffnung, sondern auch noch den Humor verliert. Erinnern? Irgendwann in den vergangenen Jahren ist mir bei allem Hin und Her zwischen gestern und heute klar geworden:
Etwas ist, wie es ist, weil etwas war, wie es war.
Unter anderem habe ich eine Zeitungskolumne mit einer kleinen Weihnachtsgeschichte aus dem Jahr 2016 gefunden. Sie handelt von meinem Besuch auf dem Stuttgarter Weihnachtsmarkt, wo ich mir einen Knoblauchtopf kaufe, obwohl ich so gut wie nie koche, schon gar nicht mit Knoblauch. Dieses Tongefäß, das mir auf Anhieb gefiel, hat bekanntlich Löcher. Das Loch an sich ist, vor allem beim Blick auf das eigene Hirn, immer etwas Faszinierendes. Und laut meiner Kolumne wollte ich dieses Küchending unbedingt haben, um darin in Zukunft meine Gesinnung aufzubewahren. Auszug:
„Im Lauf meines Lebens habe ich gemerkt, dass viele Gesinnungen, die ungelüftet in Köpfen lagern wie in Töpfen ohne Luftlöcher, zu gären und zu stinken beginnen. Dann suchen sie sich, kurz bevor der Schädel explodieren könnte, einen Ausgang und dringen nicht nur durch aufgerissene Mäuler in die ohnehin zerstörte Umwelt ein. Meist landet das Gift aus den Köpfen in den sozialen Netzwerken, vorzugsweise wenn die Gesinnungsträger gegen Menschen hetzen, die sie nicht kennen und von denen sie nichts wissen. Die Auslöser dieser Giftangriffe nennen sich gern ‚Andersdenkende‘, wohl um den Eindruck zu erwecken, sie hätten schon mal über ein anderes Denken als ihr eigenes nachgedacht.
Nach meinem Weihnachtsmarktbesuch bekam ich im Fernsehen mit, wie der Frankfurter Philosoph Thomas Metzinger in einem Interview sagte, der heute herrschende und verbreitete Hass erinnere ihn an eine alte Weisheit: Man trinkt einen Becher Gift und hofft, dass der andere davon stirbt.“
Wie gesagt, das war 2016, als die AfD schon mit mehr Abgeordneten als die SPD im baden-württembergischen Landtag saß: vor unserer Haustür, ohne dass ihre Gefährlichkeit angemessen wahrgenommen zu werden. Die Knoblauchtopf-Geschichte habe ich wenig später bei der Nacht der Lieder im Theaterhaus vorgetragen – und ihr ein berühmtes Zitat von Erich Kästner aus dem Jahr 1958 vorangestellt:
“Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat.“
Wer sich für die Sache interessiert: NETZWERK GEGEN RECHTS (Unsere nächste Veranstaltung findet am 17. Januar satt)
Und dann habe ich noch eine Kolumne aus dem Jahr 2011 entdeckt, in der u. a. Shane MacGowan auftaucht. Am 30. November dieses Jahres ist er gestorben:
SCHNEEMANN IM REGEN
Shane MacGowan sah nicht gut aus, als er im Juli 2011 im Höhenpark auf dem Killesberg einen Hang hinunterstürzte, kurz bevor er mit seiner Band The Pogues auf die Bühne musste. Die Spuren seines irischen Lebens waren deutlich zu sehen an diesem heißen Sommertag, und die Fans fühlten sich wie an Weihnachten. Schließlich verdanken sie dem Sänger Shane MacGowan eines der schönsten Christmas Songs der Popgeschichte. „Fairytale Of New York“.
Weil Mr. MacGowan ein Punk ist, gibt es in diesem Lied über einen Dialog in einer New Yorker Ausnüchterungszelle wüste Zeilen über Penner, Schlampen und schlechte Träume. Es erzählt auch von der Hoffnung auf Liebe, und der Refrain ist herzzerreißend:
„Die Jungs vom Chor des New Yorker Police Department haben ,Galway Bay‘ gesungen. / Und die Glocken haben geläutet zum Weihnachtsfest.“
Shane MacGowan weiß, wovon er redet. Geboren ist er am ersten Weihnachtsfeiertag. An diesem Christfest wird er, so Gott will, 54 Jahre alt.
Am Abend bin ich in meinem Viertel herumgelaufen und habe mir in einer Imbissbude überlegt, woran die Weihnachtszeit in der Stadt erkennbar wird. Am Geschmack der prächtigen Zimtsterne, die mir an jedem Nikolaustag eine gute Nachbarin an die Türklinke hängt, am Gestank des Glühweins auf dem Weihnachtsmarkt, oder doch an der Musik.
Die Geruchstheorie gab ich auf, als ich in einem Drogeriefenster neben zwei weiß gepuderten Kunststoff-Tannenbäumen die Reklame las, ein Zimmerparfüm beschere uns „reinere, BEDUFTETE Luft“.
Angeduftet ging ich nach Hause, um zur Klärung der Lage eine Vinyl-Platte samt CD auszupacken, die ich an Weihnachten vor zwei Jahren gekauft, aber nie angerührt hatte. Lange plagte mich die Angst, die Platte könne mir den Rest geben, so wie Shane MacGowans Lady, wenn sie ihm im New Yorker Knast kein gute Zukunft prophezeit: „Ich bete zu Gott, dass es deine letzte Weihnacht sein wird . . .“
Meine Platte heißt „Christmas In The Heart“, sie enthält fünfzehn amerikanische Weihnachtsklassiker, aufgenommen von Bob Dylan. Als das Album 2009 erschien (eine Benefiz-Scheibe für bedürftige Menschen), ging das Gezeter los. Was sich der Meister erlaube. Ob er vollends durchgeknallt sei.
Was für dumme Fragen. Bob Dylan hat sich zeit seines Leben alles erlaubt, wozu er Lust hatte, und als ich die erste Seite gehört hatte, dankte ich dem Christkind, dass ich mir diese Platte schenken durfte. Bob Dylan verkündet das Fest der Liebe hart und gurgelnd, als wollte er den Soundtrack für die sarkastischen Weihnachtsszenen in „True Crime“ mit Clint Eastwood nachliefern. „Here Comes Santa Claus“ wirft er uns mit lustigem Chor zum Fraß hin, „Little Drummer Boy“ ist – ta ram tam tam tam – sowieso nicht kaputtzusingen, und dann ist auch schon Weihnachten: „I’ll Be Home For Christmas“. Dieses Lied von einem, dem die Lichter seiner Heimatstadt den Weg nach Hause weisen, bevor er in den Armen der Geliebten landet, behandelt den Kern aller Blues- und Countrysongs. Die Menschen wollen nach Hause, und zur Not bläst ein alter Haudegen noch einmal seine Blockflöte, weil er glaubt, er habe noch genügend Atem, um irgendwo anzukommen.
Solche Dinge gehören zu den Weihnachtstagen. Und es gibt Gefühle, die man nicht verstehen und nicht beurteilen kann. Wenn im Stuttgarter Weltweihnachtscircus auf dem Wasen die Frauen und Männer des nordkoreanischen Nationalzirkus von Pyongyang ihre wahnwitzigen Trapez-Flüge starten, wird eine Instrumentalversion von „Those Were The“ Days eingespielt. Kein Weihnachtslied, doch passt es wie bestellt. Mary Hopkin hat es 1968 mithilfe von Paul McCartney berühmt gemacht, es erzählt von einer verlorenen Liebe in den Tagen, als alles anders war. Wohl auch damals, in den Tagen vor der Oktoberrevolution 1917, als das Original des Lieds in Russland gesungen wurde.
Keiner weiß, was die Titelzeile („Das waren noch Zeiten“) bei den koreanischen Akrobaten auslöst. Mitten in ihrem Stuttgart-Engagement, im Dezember 2011, starb ihr Präsident Kim Jong-il, und im Zirkus stellte sich die Frage, wie es weitergeht. Die Artisten nahmen sich einen Tag frei für die Trauer um ihren Führer. Dann kehrten sie zurück in die Manege.
Es tut gut, Weihnachten in Liedern zu begegnen. Bis heute freue ich mich, weil ich vor ein paar Jahren eine CD mit sechzehn Country Christmas Songs für drei Euro fünfzig aus einem Ramschkorb fischte. Johnny Cash singt darauf „Christmas As I Knew It“.
Die Weihnacht 2011 wird nass und trüb, wie wir es kennen, und das erinnert mich an Leonard Cohen, wenn er in „A Thousand Kisses Deep“ singt: „Du siehst, ich bin nur ein weiterer Schneemann / der im Regen und Graupel steht … “
Vom Bahnhof her glaube ich im Regen den Polizeichor zu hören, und Shane MacGowan singt in seiner Zelle: „Glaub mir’, es kommen bessere Zeiten, und unsere Träume werden doch noch Wirklichkeit.“
Die Leute steigen am Bahnhof in die Züge, um rechtzeitig am Heiligen Abend zu Hause sein, und im Internet leiten synthetische Klänge aus „Stille Nacht“ die Weihnachtsansprache des Stuttgarter Oberbürgermeisters ein. 4:36 Minuten wird er reden. Längst schlaf‘ ich in himmlischer Ruh‘.
Damit wünsche ich allen erbauliche Tage. Haltet durch! Der nächste Flaneursalon findet voraussichtlich am 20. Februar statt. Und hier ist noch ein: SONG zum Text.